Klinische Studien – mit PD Dr. Marc Pawlitzki, Oberarzt der Neurologischen Klinik, Uniklinik Düsseldorf
Folge #316 im Klinisch Relevant Podcast, Erstveröffentlichung am 11.03.2023
Zusammenfassung
In diesem Podcast sprechen Dr. Dietrich Sturm und Privatdozent Dr. Marc Pawlitzki über klinische Studien und die Entwicklung von Medikamenten für Multiple Sklerose (MS). Es gibt vier Phasen von klinischen Studien, beginnend mit der Testung an gesunden Probanden und endend mit Phase 4, bei der das Medikament in einem größeren Patientenkollektiv zur Verfügung gestellt wird, um seltene Nebenwirkungen und Wechselwirkungen zu dokumentieren. Pawlitzki betont die Bedeutung von Phase 4 Studien, da hier relevante Nebenwirkungen aufgedeckt werden können, die dann zu „Rote Hand“-Briefen führen können.
Ein vielversprechender neuer Wirkansatz für MS sind die sogenannten BTK-Inhibitoren, die den B-Zell-Depletionsansatz mit tiefer liegenden Immunmechanismen kombinieren, um Entzündungen im Zentralnervensystem zu bekämpfen. Es gibt derzeit mehrere BTK-Inhibitoren Phase 2 und 3 Studien für MS, rheumatoide Arthritis und Lupus Erythematodes, mit vielversprechenden Ergebnissen für Tolebrutinib und Evobrutinib. Die Sicherheit von BTK-Inhibitoren wird jedoch diskutiert, insbesondere in Bezug auf die Leberfunktion.
Die klinische Forschung findet überwiegend in Kliniken statt, doch niedergelassene Ärzte könnten einen wertvollen Beitrag leisten. Die Zusammenarbeit zwischen Kliniken und Praxen könnte dazu beitragen, die Behandlung von MS-Patienten zu verbessern und die Entwicklung neuer Therapien voranzutreiben. Eine wichtigere Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsfachkräften und Patienten ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Die Siponimod-Pilotstudie zur Behandlung von sekundär-chronischer MS, die in Zusammenarbeit mit mehreren medizinischen Praxen und neurologischen Zentren durchgeführt wurde, betonte die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsfachkräften in verschiedenen Sektoren, um eine effektive Patientenüberwachung und -verwaltung zu gewährleisten.
Transkript des Interviews
Dietrich Sturm
Liebe Leute, herzlich willkommen zum Klinisch Relevant Podcast! Heute mit einer neuen Folge. Ich begrüße heute erstmalig bei uns Herrn Privatdozenten Dr. Marc Pawlitzki von der Uniklinik aus Düsseldorf. Wie immer würde ich unseren Gast einmal kurz bitten, sich vorzustellen.
Marc Pawlitzki
Herr Sturm, vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich sehr. Zu meiner Person: mein Name ist Marc Pawlitzki, ich bin gebürtiger Magdeburger und habe dort auch mein Medizinstudium absolviert. In den ersten Jahren der Facharztausbildung bin ich dann auf Einladung von Professor Meuth 2018 nach Münster gewechselt und bin ihm sozusagen im Januar 2022 auch als Nachzügler nach Düsseldorf gefolgt. Hier bin ich als Oberarzt tätig und für die Bereiche Multiple Sklerose Ambulanz, Biobank und auch Studienambulanz zuständig und versuche diese für mich sehr interessanten Bereiche zu verknüpfen.
Dietrich Sturm
Unser Oberthema, das wir uns heute rausgesucht haben, war ein bisschen über klinische Studien zu sprechen. Nochmal zu rekapitulieren, welche Phasen gibt es eigentlich von klinischen Studien. Und dann den Transfer herzustellen, was gibt es abhängig von diesen Phasen im Bereich der MS, was gerade aktuell ist und zum Schluss nochmal einen Bereich zu beleuchten, den vielleicht gar nicht so viele auf dem Schirm haben: transsektorale Forschung. Also die Wertigkeit von niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen in der klinischen Forschung, aber auch den Stellenwert von Patienten und Selbsthilfegruppen. Das war so unsere Agenda für heute. Und da würde ich auch gleich einsteigen: Vielleicht könnten Sie, Herr Pawlitzki, noch mal rekapitulieren, kurz zusammenfassen, welche Phasen von klinischen Studien es gibt und wie diese sich definieren.
Marc Pawlitzki
Ich glaube, viele von Ihnen wissen das ja auch, dass es immer wieder vielversprechende Arbeiten gibt, die wir bei PubMed finden, die dann immer wieder auch mal in der Laienpresse erscheinen. Es sind ja oft auch tierexperimentelle Analysen oder in-vitro Versuche. Und ich glaube, die große Herausforderung besteht natürlich in der Translation in die Klinik. Und das, was natürlich dafür notwendig sind, sind klinische Studien. Das heißt, nach der experimentellen Phase bedarf es der ersten Testung an gesunden Probanden und dann natürlich im Verlauf an erkrankten Probanden. Und da gibt es verschiedene Phasen der klinischen Prüfung oder der Studien. Man unterteilt klinische Studien in vier Studienbereiche. Phase 1, 2, 3, 4. In Phase 1 werden hier meist gesunde Probanden eingeschlossen, eine kleine Anzahl, 10 bis 20, manchmal auch 30. 30 Gesunde, die letztendlich die Prüfsubstanz oder die Substanz, die dann sozusagen weiter untersucht werden soll, einnehmen, um letztendlich zu schauen, was gibt es für Informationen, über die Veträglichkeit. Welche Dosis, also Toxizitätsanalysen sind hier ganz relevant. Und man möchte sozusagen erst mal schauen, was kann diese Substanz überhaupt oder was löst die Substanz eben bei Gesunden aus. Hier geht es noch gar nicht um Wirksamkeit. Wir testen es ja auch bei Betroffenen. Als Ausnahme, glaube ich, muss man hier mal erwähnen, sind Medikamente, die für die Tumortherapie zugelassen werden sollen. Hier ist es schon so, dass in Ausnahmefällen natürlich auch Betroffene hier eingeschlossen werden. Nach dieser Phase 1 Studie schließe ich logischerweise die Phase 2 Studie an. Hier geht es zum ersten Mal um das „proof of concept“, also die ersten Wirksamkeitsanalysen. Aber auch hier ist ganz wichtig, dass es eine kleine Patientenanzahl gibt, die schon statistische Analysen ermöglicht, aber noch keine groß angelegte Studie. Dann teilt man die Phase 2 Studien auch in Phase 2a und 2b. Bei Phase a geht es um die erste Wirksamkeit. Bei Phase 2b geht es um die Dosisfindung. Man möchte natürlich schauen, welche Dosis notwendig ist, um vielleicht den gleichen Effekt zu erreichen. Aber wenn wir hinsichtlich Pharmakokinetik und Pharmakodynamik denken, welche Dosis vielleicht auch ausreichend ist, um den Effekt zu bewirken. Wie gesagt, hier sind weniger Patienten, im Vergleich zu den Zulassungsstudien deutlich weniger Patienten und Patientinnen notwendig. Aber es werden schon die ersten Endpunkte formuliert. Das sind, wenn wir es auf die Multiple Sklerose beziehen, oft auch typische Parameter wie Schubrate oder MRT Veränderung, also Kontrastmittel aufnehmende Läsion oder auch die T2 Läsionslastzunahme.
Marc Pawlitzki
Natürlich oft auch schon im Vergleich zu Placebo-kontrollierten Patienten, die letztendlich nicht die Substanz einnehmen. Es ist so, dass Phase 2 Studien bestenfalls auch den klinischen Endpunkt erreichen sollen oder den Erfolg zeigen können. Aber es ist nicht unbedingt zwangsläufig. Es ist auch so, dass wenn eine Phase 2 Studie Signale zeigt, die statistisch relevant oder signifikant sind, kann es trotzdem sein, dass der Sponsor oder die Firma letztendlich eine Phase 3 Studie auflegt. In der Phase 3 Studie, das ist die Zulassungsstudie, da geht es darum, im großen Patientenkollektiv, wir erreichen bei der Multiple Sklerose jetzt teilweise auch Zahlen Richtung 1000 Patienten oder mehr, hier geht es darum, wirklich eine Wirksamkeit nachzuweisen, die, wir müssen auch wieder auf die MS beziehen, sogar auch den zugelassenen Substanzen überlegen sein sollte. Hier geht es um klinische Endpunkte und wenn wir auf die Sekundärparameter schauen, natürlich auch MRT und eben auch Sicherheitsdaten, die hier eine Rolle spielen. Kommt es dann zur Marktzulassung oder kann sozusagen die Phase 3 Studie überzeugende Ergebnisse liefern, die den Arzneimittelbehörden in den USA oder auch in Europa genügen, schließen sich dann Beobachtungsstudien an, Phase 4 Studien. Die sind immer sehr interessant, weil es hier darum geht, natürlich in einem viel breiteren betroffenen Kreis dieses Medikament zur Verfügung zu stellen.
Marc Pawlitzki
In den Phase 3 Studien gibt es ja oft auch Alterseinschränkungen oder man schaut auch hinsichtlich Komorbitäten oder Vormedikationen und in Phase 4 verwischt das Ganze dann, und das möchte man ja auch, weil man vor allem auch seltene Nebenwirkungen damit dokumentieren möchte und entsprechend auch pharmakodynamische Wechselwirkungen untersuchen möchte, gerade wenn es um Komedikation etc. geht. Die Wichtigkeit von Phase 4 Studien wird dabei oft so ein bisschen unterschätzt, weil wir gerade auch im Hinblick auf die Multiple Sklerose durch Phase 4 Studien relevante Nebenwirkungen sehen, die dann auch zu „Rote Hand“ -Briefen führen. Durch sog. Real World Daten kann es sogar zur Marktrücknahme von Präparaten kommen. Hier als Beispiel noch für die einen oder anderen, die es noch wissen, das Daclizumab.
Dietrich Sturm
Ja, das war vor ein paar Jahren mal aktuell. Sie haben es schon gesagt, also diese sogenannten Real World Daten generieren sich dann, wenn ich es richtig verstanden habe, überwiegend aus Phase 4 Studien. Kann man das so sagen?
Marc Pawlitzki
Ja, das kann man so sagen. Und das Schöne an diesen Real World Daten ist, dass wir hier vor allem auch ein Patientenkollektiv haben, was sich nicht unbedingt in den Universitätskliniken findet, sondern auch im niedergelassenen Bereich. Wir haben ja immer auch eine Art negative Selektion in den Kliniken, in denen die Studien stattfinden. Das sind ja meist eben auch die Phase 3 Studien, die ja in der Niederlassung gar nicht realisiert werden können, nur in seltenen Fällen in Schwerpunktpraxen. Das heißt, wir haben oft ja auch in den Hochschulambulanzen, aus denen wir dieses Patientkollektiv hier ziehen, Patienten, die vielleicht auch schwer betroffen sind oder uns aus anderen Gründen überhaupt erst vorgestellt werden. Und in den Real World Daten sehen wir ja ein ganz anderes Kollektiv. Also hier bekommen auch Patienten das Medikament -natürlich aufgrund der entsprechenden Indikation-, die aber vielleicht nicht die Komplexität haben, die wir oft in den Hochschulen sehen. Von daher ganz, ganz wichtig, dass wir hier auch mehr erfahren.
Dietrich Sturm
Also es geht letztlich darum, ein hochselektioniertes Patientenklientel, was sich vielleicht in den Phase 3 Studien noch tummelt, im positiven Sinne etwas zu verwässern. So, dass es der Versorgungswirklichkeit entspricht.
Dietrich Sturm
Insbesondere was die Altersbeschränkung angeht. Das ist ja in den Phase 3 Studien oft auch, wenn wir auf die MS wieder beziehen, mit Mitte 50. Ja auch, dass gerade auch inflammatorische Aktivität darüber hinausgeht, bei den late-onset MS-Patienten und da eben auch entsprechend hochwirksame Medikamente zur Verfügung zu stellen, ist ja total wichtig.
Dietrich Sturm
Ja, wenn ich es nochmal ganz kurz zusammenfassen darf, also wir beginnen eigentlich in der Grundlagenforschung, Nassforschung, Labor, wo möglicherweise dann ein Wirkstoff identifiziert wird, auch im Tierversuch in der Regel noch getestet wird, zumindest hinsichtlich Toxizität. Und am Menschen geht es mit der Phase 1 Studie los, primär an gesunden Probanden. Dem schließen sich die Phase 2a, 2b Studien an, wo so etwas wie Dosisfindung und Verträglichkeit an Patienten optimiert wird. Und die Phase 3 Studie ist die Zulassungsstudie mit einem großen Patientenkollektiv.
Marc Pawlitzki
Richtig, genau. Hier möchte ich auch nochmal ergänzen, dass wir hier immer wieder wichtige Erfahrungen sammeln. Es gab vor einigen Jahren auch im Bereich einer Phase 1 Studie den leider tragischen Fall, dass ein Kollektiv an gesunden, jungen Menschen eine Prüfsubstanz bekommen haben. Und das relativ zeitnah nacheinander. Und innerhalb von wenigen Stunden oder auch Tagen führte das zu schwerwiegenden Nebenwirkungen. Und auch das hat dazu geführt, dass man hier auch noch eine viel größere Sorgfaltspflicht implementiert hat und insbesondere nicht mehr Patienten oder in dem Fall ja auch auch gesunde Probanden gleichzeitig einer neuen Substanz zuführt, sondern eben auch da eher das zeitversetzt umsetzt. Und das ist, glaube ich, ganz, ganz wichtig. Natürlich ist es so, dass viele präklinische Daten uns auch eine gewisse Sicherheit suggerieren, aber beim Menschen trotzdem ganz andere Effekte auslösen können. Und wie auch, wir haben es ja gerade schon erwähnt, bei dem Daclizumab war es ja sogar so, dass die Substanz ja schon sehr, sehr lange auch für andere Indikationen zugelassen war und bei der MS aber dann doch zu so schwerwiegenden Nebenwirkungen führte.
Dietrich Sturm
Ja, manchmal ist es vielleicht auch krankheitsspezifisch, dass bestimmte Nebenwirkungen dann erst wirklich manifest werden beim Einsatz von eigentlich etablierten Substanzen. Das kann man sich ja gut vorstellen. Wenn wir dieses Schema jetzt nehmen und zumindest anteilig auf die Multiple Sklerose- Forschungslandschaft übertragen, dann müssen wir jetzt, glaube ich, gar nicht in jede Stufe einsteigen. Sie überblicken das sicherlich sehr gut. Was sind denn so Highlights ab der Phase 2, wo man ein Auge drauf haben könnte oder sollte in den nächsten Jahren?
Marc Pawlitzki
Ich glaube, da gibt es gerade einen großen Trend, den aus meiner Sicht aber leider alle Firmen gleichzeitig verfolgen. Das ist letztendlich der Ansatz, dass man ein Enzym, die sogenannte Bruton-Tyrosinkinase, modulieren möchte, bzw. in diesem Falle inhibieren möchte. Die Bruton- Tyrosinkinase, abgekürzt BTK, ist ein relativ relevantes Enzym, was sich vor allem in B- Zellen findet, also im adaptiven Immunsystem, aber eben auch in Makrophagen und in Mikroglia-Zellen. Das heißt, dieses Enzym spielt scheinbar auch eine Rolle im innaten Immunsystem, welches sich im zentralen Nervensystem befindet. Und durch die Beeinflussung dieses Enzyms, durch diese Inhibition, kommt es halt dazu, dass vor allem die Proliferation von B Zellen und die Reifung der B Zellen bis hin zur Interaktion mit den T Zellen beeinflusst wird. Entsprechend so, dass es nicht zu einer Aktivierung kommt oder zu einer geringen Aktivierung. Zusätzlich scheint es so zu sein, dass es zu einer geringeren Sekretion und Freisetzung von Zytokinen kommt. Und was man sich von diesem Ansatz verspricht ist, dass man zum einen die Effekte in der Peripherie so beeinflusst, dass die Autoimmunität, die bei der MS hervorherrscht, herunterreguliert, aber andererseits auch aufgrund der ZNS -Gängigkeit dieser Substanzen und eben der Inhibition der BTKs in den innaten Immunzellen auch einen Effekt im zentralen Nervensystem verursacht.
Marc Pawlitzki
Und das ist natürlich das, was wir ja seit Jahren versuchen zu beeinflussen. Wir sehen ja schon, dass solche höher wirksamen Substanzen Schübe und MRT-Aktivität der Erkrankung beeinflussen können. Aber was uns ja nicht so richtig gelingt, ist ja diese schleichende Verschlechterung, gerade auch bei den chronisch-progredienten Verläufen, in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Und da gibt es halt aktuell auch die Hypothese der kompartmentspezifischen Inflammation. Das heißt, der Inflammation im ZNS. Und durch diesen Ansatz der BTKIs, dieser Inhibitoren, möchte man der Sache sozusagen Herr werden. Und da gibt es eine Reihe von BTKI Studien, sowohl Phase 2 und 3, sie müssten knapp an die 10 sein. Man testet diesen Ansatz auch nicht nur bei der MS, sondern auch bei der Rheumatoiden Arthritis und auch bei dem Lupus erythematodes. Und für die MS gibt es auch schon die ersten erfolgreichen Phase 2 Studien. Es gibt zwei Substanzen, die da jetzt auch die ersten Ergebnisse gezeigt haben. Das Tolebrutinib und das Evobrutinib. Beide haben in den Phase 2 Studien sowohl einen positiven klinischen Effekt gezeigt, was die Schubratenreduktion angeht, aber vor allem auch, was die MRT-Aktivität angeht. Was, glaube ich, ganz positiv zu bewerten ist, ist, dass durch diesen breiten Ansatz dieser BTKIs entsprechend auch in anderen Autoimmunerkrankungen wir natürlich viel mehr Sicherheitsdaten generieren können.
Marc Pawlitzki
Und so verfügen wir jetzt auch schon für eine relativ große Zahl von Betroffenen über erste Sicherheitsdaten. Das heißt, vor allem gab es Sicherheitssignale für die Leber, denn es gab Leberwerterhöhungen. Das führte auch zum vorzeitigen Stopp einer aktuellen Phase 3 Studie mit einem BTKI. Aber insgesamt scheint sich das alles etwas relativiert zu haben. Und wir erwarten da auch in den nächsten Jahren die ersten hoffentlich erfolgreichen Signale aus den Phase 3 Studien.
Dietrich Sturm
Es ist ja im Prinzip ein dualer Ansatz. Einerseits wird der Trend in der Multiplen Sklerose zur B-Zell -Depletion etwas aufgegriffen, der sich in den letzten Jahren entwickelt hat mit Ocrelizumab, Ofatumumab und andererseits offensichtlich dann doch noch tiefer liegende Mechanismen des Immunsystems mit beeinflusst. So habe ich sie jetzt zumindest verstanden und ich hoffe, ich kann es richtig wiedergeben, um diese vor sich hin köchelnde Entzündung im ZNS irgendwie in Schach zu halten. Das sind ja ganz fundamentale immunologische Eingriffe. Wie sehen Sie persönlich so den Sicherheitsaspekt bei solchen Substanzen?
Marc Pawlitzki
Ja, das ist eine sehr, sehr gute Frage. Wir müssen bei allen Innovationen, die wir auch in den letzten Jahren im Bereich der MS-Therapie glücklicherweise erleben, immer auch schauen, dass wir trotzdem die richtigen Patienten auswählen. Es ist ja auch so, dass wir bei dem B-Zell depletierenden Ansatz, beispielsweise mit dem Ocrelizumab, ja auch chronisch progrediente Patienten behandeln. Auch da muss man aber sehen, nachdem wir jetzt ja auch einen breiten Erfahrungsschatz über mehr als fünf Jahre weltweit sammeln konnten, dass es doch auch eine Vielzahl an Patienten gibt, wo wir nicht wirklich einen Erfolg sehen können. Und das muss man an der Stelle auch ehrlich zugeben. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch schon auch Sicherheitssignale. Ich weiß nicht, wie Ihre Erfahrung ist, aber z.B. eine Infekthäufung, ein Immunmangelsyndrom, was bei dem ein oder anderen auftritt oder auch in Zeiten der COVID-19 Pandemie natürlich auch zum Teil Signale, dass eben ein entsprechend erhöhtes Infektionsrisiko oder auch schwerere Verläufe oder sogar infauste Verläufe unter bestimmten Immuntherapien auftreten. Das heißt, wir dürfen nicht vergessen, dass wir bei allen möglichen Ansätzen trotzdem schauen, welcher Patient soll es denn am Ende bekommen.
Marc Pawlitzki
Nun ist es so, dass man die BTKI sehr breit testet. Es gibt Studien, die sie bei der sekundären, nicht aktiven, chronischen MS testet. Da gibt es Studien, die es bei der primär chronischen MS und natürlich auch bei der schubförmigen MS untersuchen. Was, glaube ich, ganz spannend sein wird, ist eine Studie, in der ein BTKI gegen Ocrelizumab untersucht werden soll. Und das, glaube ich, wird sehr, sehr spannend sein.
Dietrich Sturm
Um es zu erklären für alle, die jetzt nicht so MS-Experten sind, also dieser duale, in Anführungsstrichen neue Wirkansatz gegen eine reine B-Zell- depletierende Therapie mit dem Ocrelizumab. Das zur Ergänzung.
[00:17:57.100] – Marc Pawlitzki
Das Ocrelizumab wirkt sozusagen nicht im zentralen Nervensystem. Da geht es wirklich darum, die B-Zellen in der Peripherie zu depletieren. Dennoch hat man in der Zulassungsstudie bei primär chronischer MS auch relevante Effekte sehen können, wobei das vor allem die primär chronischen MS Patient*innen betraf, die in irgendeiner Weise doch noch eine entzündliche Aktivität hatten, sei es im MRT oder doch auch eine akute klinische Verschlechterung zeigten und entsprechend auch jünger waren.
Dietrich Sturm
Ich würde jetzt nochmal einen Schritt wieder zurücktreten. Sie sagten ja gerade, dieser Therapieansatz ist so in Phase 2-Studien. Wie ist der zeitliche Horizont, speziell für diese Substanzgruppe? Wenn alles gut läuft, wie lange dauert es noch bis zu einer Markteinführung?
Marc Pawlitzki
Ich glaube, es gibt da auch ganz gute statistische Auswertungen. Aber man geht so rund von zehn Jahren aus, wenn nicht sogar noch mehr. Wir müssen ja auch sehen, dass in den letzten Jahren vor allem auch die regulatorischen Bedingungen oder Voraussetzungen deutlich zugenommen haben. Jetzt auch in Zeiten der COVID-19 Pandemie führte das zum Teil auch zum Stopp von Studien. Also der Aufwand für eine solche Studie bis zur Markteinführung wird immer größer. Und wenn wir jetzt mal auf die BTKIs das beziehen, glaube ich, kann man frühestens Ende 2024, eher 2025, das sind die letzten Informationen, die ich bekomme, aber überhaupt mit den ersten großen Ergebnissen rechnen.
Dietrich Sturm
Okay, aber wenn man so einen Zeitraum von zehn Jahren, eine Zeitspanne von zehn Jahren global sieht, dann ist ja jetzt zwei Jahre bis Anfang 2025 gar nicht mehr so lang.
Marc Pawlitzki
Was ich etwas schade finde, ist, dass sich sehr viele Firmen jetzt auf diesen Ansatz konzentrieren. Was dann immer schade wird, wenn dieser Ansatz aus irgendwelchen Gründen doch kein Erfolg zeigt. Sodass die Innovation damit auch ein bisschen verloren geht, bis wieder ein neuer Ansatz verfolgt werden kann. Das haben wir bei den B-Zell depletierenden Ansätzen auch gesehen. Da gab es dieses Jahr auch noch das Ublituximab, möglicherweise auch noch ein Medikament, das für die MS zulassen wird.
Dietrich Sturm
Das wird die Praxis dann zeigen, wie erfolgreich dieser Ansatz war. Aber auf alle Fälle sehr spannend, auch rein mechanistisch. Ich würde noch mal weitergehen zu unserem nächsten Punkt, den Sie ja auch mit eingebracht haben. Wie Sie selber schon angerissen haben, spielt sich klinische Forschung überwiegend an Kliniken ab. Das müsste aber eigentlich gar nicht so sein, denn die niedergelassenen Kollegen könnten da einen wertvollen Beitrag leisten. Wie beurteilen Sie diesen Aspekt?
Marc Pawlitzki
Das ist ein ganz, ganz wichtiger Aspekt. Ich habe vorhin vergessen, ich habe noch einen kleinen Nebenjob. Ich arbeite einmal im Monat für einige Tage auch in einer neurologischen Praxis und dadurch finde ich den großen Vorteil, dass ich so beide Welten kennengelernt habe. Das heißt, ich sehe auch ein ganz anderes Patientenkollektiv. Was die ambulante Versorgung angeht, haben wir da einen großen, großen Schatz auch an Erfahrung der vielen niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen. Auch was das Vertrauen der Patient*innen zu den Kolleginnen und Kollegen betrifft. Daraus resultieren auch ein viel größere Möglichkeiten, diese Patient*innen für Studien zu gewinnen. Sei es nun für größere Zulassungsstudien oder auch möglicherweise über Investigator Initiated Trials. Also wir als Hochschule haben ja auch immer wieder neue Studienkonzepte, neue Beobachtungsstudien, die wir anbieten und da hilft uns natürlich auch die enge Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Praxisbetreibern.
Dietrich Sturm
Und soetwas wäre dann unabhängig von der Pharmaindustrie?
Marc Pawlitzki
Ja, genau. Unabhängig von der Pharmaindustrie möchten wir natürlich auch Wirksamkeit analysieren oder auch Effekte identifizieren. Und auch mechanistisch einen wertvollen Beitrag leisten. Da hilft es uns natürlich, dass wir immer auch die Patienten zum einen vorgestellt bekommen, aber auch, das haben wir zuletzt auch erfolgreich publizieren können, außerhalb von industriegeführten Phase 4 Studien, Real World Daten gemeinsam sammeln, indem wir eigene Studien aufsetzen.
Dietrich Sturm
Und ich glaube, da bedarf es noch viel engerer Zusammenarbeit, auch was den Datenaustausch angeht. Da wir sicherlich auch in Europa aufgrund des Datenschutzes immer wieder auch vor Herausforderungen stehen. Aber da sehe ich ganz, ganz viele positive Entwicklungen, indem man halt auch gemeinsame Schnittstellen nutzt, um entsprechende Daten auch gemeinsam zu erheben, aber auch die richtigen Patienten zu selektieren.
Dietrich Sturm
Was Sie angesprochen haben ist auch die hohe Adhärenz der Patientinnen und Patienten zu Ihren behandelnden niedergelassenen Neurologen. Gibt es in Düsseldorf oder NRW schon Pilotstudien, die sich das zu Nutze machen?
Marc Pawlitzki
Ja, wir haben den ersten Pilotversuch unternommen. Dabei ging es jetzt konkret um das Siponimod. Da wollten wir schauen, inwieweit auch die niedergelassenen Kolleg*innen hier Erfahrungen haben. Wir konnten auch da entsprechend einen relativ großen Anteil an Patienten über mehrere Monate bzw. Jahre verfolgen. Wir haben jetzt die erste Erfahrung konkret am Beispiel Siponimod sammeln können, also eine Substanz, die für die sekundär-chronische MS zugelassen ist. Hier konnten wir durch die enge Zusammenarbeit mit mehreren Praxen und auch sogenannten Neurozentren rund um Düsseldorf Real World Daten sammeln. Um darauf aufzubauen sind wir gerade dabei eben auch Schnittstellen zu finden, indem wir jetzt unsere Datenbanken -wir haben ja auch eine klinische Datenbank und auch eine Biobank- mit verschiedenen Praxen zu fusionieren. Und da ich ja nun auch in einer Praxis tätig bin, kann ich versuchen, zu einem Zusammenschluss beizutragen.
Dietrich Sturm
Also im Prinzip ein Plädoyer und eine Ermunterung auch für interessierte Kolleginnen und Kollegen aus dem niedergelassenen Bereich, sich an solchen Projekten zu beteiligen. Das ist ja sehr wichtig.
Marc Pawlitzki
Es gibt ja viele niedergelassene Kolleginnen und Kollegen, die selbst auch eine Zeit lang in Universitäten gearbeitet oder Forschung betrieben haben. Sie verfügen über eine große klinische Expertise und hier bedarf es wirklich eines viel engeren Austausches. Wir haben ja oft auch in den Hochschulen natürlich auch die Situation, dass viele Assistentinnen und Assistenten im Rahmen der Ausbildung in diesen Ambulanzen sitzen. Und ich glaube, die Frage der Therapieadrehenz ist eben sehr wichtig. Wir haben auch das Problem, das die Kolleginnen und Kollegen in der Klinik oft rotieren. Durch die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Fachärzten, glaube ich, können wir wichtiges Vertrauen schaffen. Und das braucht es auch, denn die neuen Substanzen werden teilweise subcutan appliziert. Oder wenn wir jetzt auch die BTKIs betrachten, falls sie auf den Markt kommen, natürlich auch oral. Das heißt, wir haben plötzlich sehr, sehr intensive Immuntherapien, die aber nicht mehr in den Kliniken gegeben werden, sondern halt in der Peripherie, also in der Niederlassung. Das heißt, da geht es ja auch um das Monitoring der Patienten: auf was muss ich achten und wie schnell habe ich aber vielleicht doch noch mal Kolleginnen und Kollegen aus den Kliniken an der Hand, wenn es darum geht, mal schnell einen Patienten vorzustellen.
Dietrich Sturm
Ja, genau. Das finde ich auch ganz wichtig, dass man so eine Art Versorgungsnetzwerk für den Patienten spannt, ausgehend auch von einem Zentrum. Aber es sind halt tatsächlich hochwirksame und teilweise auch hochaggressive Therapien, die, so segensreich sie auch sind, im Einzelfall ja auch heftige Nebenwirkungen haben können.
Marc Pawlitzki
Ja, und man sieht ja auch, dass nach der Zulassung auch die entsprechende Werbung seitens der Firmen erfolgt: ist doch alles praktikal, setzt es doch einfach mal um. Aber die Nebenwirkungen oder auch mit Monitoring, wird man zum Teil alleine gelassen. Und wir erleben das ja selber immer wieder. Bei bis dato sehr wirksamen und sicheren Therapien haben wir immer wieder spontan schwere Leberwerterhöhungen oder ein plötzliches Aufflammen anderer Autoimmunerkrankungen. Da bin ich ja auch froh, dass ich hier in einer Uniklinik den Vorteil habe, andere Fachrichtungen fragen zu können. Aber wenn ich in der Niederlassung bin, das kenne ich ja nun selbst auch, wenn ich in der Praxis arbeite, ist es schon schwieriger, diese Patienten plötzlich unterzubringen. Da müssen wir engeren Austausch finden. Wir sind ja auch gerade dabei, ein Immunoboard aufzubauen, indem wir halt versuchen, halt auch den niedergelassenen Kolleg*innen die Möglichkeit zu bieten, vielleicht auch anonymisiert Fälle mal schnell auf dem kurzen Dienstweg vorzustellen, auch eben verschiedene Experten zu fragen. Ich glaube, das sind so Konzepte, die etwas Positives aus der Corona Pandemie darstellen. Dass wir jetzt auch virtuelle Konzepte etablieren können, um auch schnellen Austausch zu gewährleisten zu können.
Dietrich Sturm
Das halte ich für hochgradig sinnvoll. Sehr gute Idee. Jetzt haben wir viel über die Patienten gesprochen. Es lohnt sich immer, mit Patienten zu sprechen. Aber es lohnt sich vielleicht auch, mit organisierten Patienten- Verbindungen zusammenzuarbeiten. Über Forschung zu sprechen. Das war ein Punkt, den wir ganz am Anfang noch aufgemacht hatten. Wie stehen Sie dazu?
Marc Pawlitzki
Ich habe selbst im Mai zum Welt-MS-Tag die hiesige MS Patienten- Veranstaltung als Zuschauer besucht, weil ich einfach mal so ein bisschen das Gefühl haben wollte, wenn man mal nicht vorne steht, wie das die Patienten und Patienten so wahrnehmen. Und ich glaube, wir müssen viel mehr mit diesen Institutionen oder Organisationen darüber sprechen, was wünschen sich unsere Patientinnen und Patienten? Was wollen die eigentlich? Was erwarten sie von einer Therapie? Welches Monitoring wünschen sie sich? Wir selber versuchen jetzt zum Beispiel aktuell vor allem über digitale Analysen, mit Smartwatches oder Apps, Informationen von Patienten zu generieren und auch vielleicht mit dem Patienten zu interagieren. Aber auch da bleibt ja die Frage, möchte das jeder Patient? Und durch die Selbsthilfeorganisation haben wir letztendlich auch eine ganz, ganz wichtige Stimme, um vielleicht auch zu überlegen, was wünscht ihr euch denn als Outcome? Oder gibt es vielleicht auch, das was ja immer so ein bisschen hinten runter fällt, Symptome, wo wir vielleicht viel mehr auch Studien aufsetzen sollten? Wir reden ja immer auch über natürlich die positive Beeinflussung des MS Verlaufes, aber es geht ja auch vor allem um symptomatische Therapien. Hier mangelt es ja massiv an Studien und das ist ja für viele Patienten und Patienten viel, viel relevanter. Und da braucht es, glaube ich, auch einen viel engeren Austausch.
Dietrich Sturm
Also nicht nur Ärzte vernetzt euch zwischen stationär und niedergelassenem Sektor, sondern auch Patienten vernetzt euch mit euren Ärzten quasi im Sinne eurer eigenen Behandlung.
Dietrich Sturm
Auf jeden Fall! Ich sage ja auch immer zu unseren Patientinnen und Patienten, das erste Jahr der MS Diagnose ist, glaube ich, das Schwierigste, weil man verstehen muss, was ist das für eine Erkrankung. Man beliest sich im Internet. Es geht ja auch darum, was ist ein Schub etc. Und wenn wir das schaffen, auch Wert für dieses Netzwerk zu bieten für die Betroffenen und auch zu sagen: Mensch, du bist trotzdem, auch wenn deine Erkrankung jetzt gerade neu ist, auch ein Kandidat für eine Studie. Vertraue denen oder schau mal, das macht doch Sinn. Ja, das könnte auch für deinen Verlauf noch sinnvoll sein. Ich glaube, da bedarf es wirklich eines gemeinsamen Herangehens. Wir machen das beispielsweise auch für andere Krankheitsentitäten, dass wir uns einmal im Quartal virtuell mit Selbsthilfeorganisationen und Betroffenen treffen und auch unsere Studien vorstellen, damit die Patienten auch up to date bleiben.
Dietrich Sturm
Sehr schön. Herr Pawlitzki, danke für diesen kleinen Ritt und diesen Ausblick in aktuelle Forschungsaspekte, den Überblick über die klinischen Studien und auch die wichtigen Impulse zur transsektoralen Forschung. Es hat mir viel Spaß gemacht. Wie immer habe ich eigentlich fast mit am meisten gelernt, glaube ich. Ich hoffe, Ihnen hat es auch ein bisschen Spaß gemacht und ich würde mich freuen, wenn Sie bald mal wieder bei uns vorbeischauen.
Marc Pawlitzki
Ja, vielen Dank für die Einladung und ich freue mich auf die Fortsetzung.
Weiterführende Medien:
Podcast:
Klinische Studien – mit PD Dr. Marc Pawlitzki
Literatur:
„Wo ist der Beweis?“ – Imogen Evans et al.
Disclaimer:
Wir haben diesen Beitrag nach bestem Wissen und Gewissen für Euch recherchiert und zusammengestellt. Dabei stützen wir uns auch auf die Expertise und die Erfahrungen unserer Expert*innen. Wir können dabei aber natürlich keine Haftung für eventuelle Fehlhandlungen oder Probleme übernehmen, die durch die hier dargestellten Inhalte entstehen.
Vielen Dank fürs Zuhören bzw. Lesen!
Wir hoffen, Du hast wieder etwas wichtiges für Dich und Deine Patient*innen lernen können. Wenn Du Fragen oder Anregungen hast, schreib uns gerne an:
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