Physiotherapie bei akuten unspezifischen Rückenschmerzen – mit Philip Hielbig

Jun 19, 2023 | Podcasts, Transkripte

Klinisch Relevant Podcast, Erstveröffentlichung am 07.02.2023 

Zusammenfassung

Welche physiotherapeutischen Interventionen bei akuten Rückenschmerzen hilfreich sein können:

Rückenschmerzen sind ein häufiger Grund, warum sich Patient*innen in Arztpraxen oder in Notfallambulanzen vorstellen. Dabei handelt es sich in über 90% der Fälle um Rückenschmerzen, die keine spezifische bzw. keine für den Betroffenen bedrohliche Ursache haben.
In diesem Fall spricht man auch von akuten unspezifischen Rückenschmerzen, die eigentlich keiner weiteren spezifischen Diagnostik bedürfen.

Trotzdem leiden die Betroffenen unter starken, z.T. immobilisierenden Schmerzen, die auch zu einer großen psychischen Belastung und einer sorgenvollen Grundstimmung führen können.

In einem Podcast-Interview mit Dr.Janina Deyng, Fachärztin für Neurochirurgie, haben wir -nur um sicher zu gehen- noch einmal die sog. „Red flags“ herausgearbeitet, die Du bei Rückenschmerzen berücksichtigen solltest:
„Rückenschmerzen: Wann müssen wir genau hinschauen?“

Was kannst Du also neben einer Schmerztherapie tun, um den Patient*innen mit akuten unspezifischen Rückenschmerzen zu helfen? Darüber haben wir mit Philip Hielbig, Physiotherapeut, Leiter eines neurologischen Therapiezentrums in Heidelberg und Dozent für neurologische medizinische Trainingstherapie gesprochen.

Transkript des Interviews

Sprecher

 Herzlich willkommen bei Klinisch Relevant, Deinem Wissenspartner für das Gesundheitswesen. Zweimal pro Woche, nämlich dienstags und samstags, versorgen wir Dich mit unserem Podcast und bringen dir Fachwissen in Deine klinische Praxis. Weitere Informationen und Angebote findest Du auf unserer Webseite klinisch–relevant.de. Viel Spaß beim Zuhören. Heute mit Philipp Hielbig zum Thema „Physiotherapie bei akuten unspezifischen Rückenschmerzen“.

Kai Gruhn

 Lieber Philipp, schön, dass du wieder da bist – ein zweites Mal im Klinisch Relevant Podcast. Ich freue mich sehr, dass du dir Zeit genommen hast. Ich weiß, du hast wenig Zeit, weil du mittendrin bist in vielen Projekten. Nichtsdestotrotz, es gibt heute ein wichtiges Thema, das wir besprechen wollen. Ich als Neurologe habe das häufig, dass ich über die Station gehe und Patient*innen mit akuten Rückenschmerzen sehe, die in der neurologischen Untersuchung keine Auffälligkeiten zeigen, aber die Patienten haben akute Schmerzen und können sich häufig kaum bewegen. Und als Behandlerteam stehen wir oft vor der Herausforderung: was machen wir mit diesen Patient*innen? Der Reflex ist nicht selten, die Schmerzmedikation höher und höher zu schrauben. Und ja, ich wollte dich mal fragen -du hast immer einen super Draht zu den wissenschaftlichen Daten- welche physiotherapeutischen Interventionsmöglichkeiten es gibt. Also was können wir machen, um diesen Patienten mit akuten unspezifischen Rückenschmerzen zu helfen?

Philip Hielbig

Ja, erst mal danke für die Begrüßung, Kai. Ich freue mich auch, dass ich wieder hier sein darf. Im Großen und Ganzen muss man erst mal unterscheiden -und das habt ihr ja schon in vorherigen Podcasts gemacht, dass der große Teil der Rückenschmerzen unspezifisch ist und der kleinere Teil spezifisch, bei denen „Red Flags“ abgefragt werden müssen, die Hinweise auf schwerwiegende Pathologien geben können. Und bei den 80 bis 90 Prozent, die eben unspezifische Rückenschmerzen zeigen, kann man im Großen und Ganzen sehr viel tun tatsächlich. Peter O’Sullivan hat 2005 eine ganz schöne Klassifikation des Low Back Pains veröffentlicht. Für Unspezifischen Rückenschmerz gibt es noch eine weitere Unterteilung, die für die Trainingstherapeutischen Maßnahmen relevant sein kann. Nämlich, dass wir 30 Prozent von diesen unspezifischen Rückenschmerzpatienten haben, die mechanisch nicht beeinflußbar sind. Das heißt, die haben zentrale maladaptive Anpassungen, sogenannte „yellow flags“, psychosoziale Faktoren, die dazu führen können, dass sie im weiteren Verlauf auch die Tendenz haben zu chronifizieren oder schlechter zu werden. Und dann gibt es die mechanisch beeinflussbaren unspezifischen Rückenschmerzpatienten. Von dieser Gruppe sind noch mal ungefähr 30 Prozent bewegungsabhängig. Das heißt, man kann durch eine klinische Richtungspräferenz etwas bewirken. Und es gibt noch mal 30 Prozent von diesen insgesamt 60 Prozent (mechanisch beeinflussbar), die haltungsabhängig sind. Das heißt, man kann durch eine Veränderung der Haltung schon den Schmerz positiv beeinflussen und dann sind wir tatsächlich schon bei der Modifizierung von Schmerzen. Heißt ganz praktisch und pragmatisch, wenn du den Patienten vor dir stehen hast, ist erstmal die Wahrscheinlichkeit natürlich größer, dass der Patient unspezifische Rückenschmerzen hat, die bei ungefähr 60 Prozent entweder durch Haltung oder durch Bewegung beeinflussbar sind. Und diese Bewegungen muss man erfragen. Vielleicht gibt es eine Bewegung, die der Patient in der Vergangenheit gemacht hat, die den Schmerz ausgelöst hat. Vor der er jetzt auch Angst hat. Und gerade bei Angst ist es natürlich so, dass wir wissen, dass diese dazu führen kann, dass es zu einer Verstärkung der Schmerzen kommt. Alleine schon bei der Vorstellung der Bewegung oder dann natürlich bei der Durchführung in Kombination mit ungünstigen kognitiven Einflüssen. Und da muss man drüber sprechen, also Aufklärung ist da mit Sicherheit auch ganz wichtig, aber den Patienten erst mal sprechen lassen, danach fragen, was denn die Ursache war oder was er sich vorstellt, was er denkt, was erst den Schmerz ausgelöst hat. Und dann ist es wichtig darauf einzugehen, dass es strukturell höchstwahrscheinlich eben keinen Hintergrund gibt und die Bewegung, vor allem natürliche Bewegung, die Prognose deutlich erhöht, wieder sich natürlich bewegen zu können, auch im weiteren Verlauf. Weil dieses Bracing, sagt man dazu in der Trainingstherapie oder in der Bewegungswissenschaft, eben ein ungünstiger Begleitmechanismus ist, der den Schmerz eher noch verstärken kann, also die Bauchspannung, die stark ist und bei dem Bücken beispielsweise nicht locker lässt und eben zu einer Kokontraktion des Rückenstreckers noch zusätzlich führt. Also jetzt lange Antwort auf eigentlich eine kurze Frage. Aber das ist auch nicht so einfach. Also es ist relativ komplex, aber am Ende, wenn es um die klinische Symptomatik geht und die klinische Beeinflussbarkeit, dann vielleicht doch gar nicht so schwer.

Kai Gruhn

Klar, wir Menschen wünschen uns ja immer so eine Lösung, die wir über alle Patienten stülpen können. Aber das ist natürlich klar, dass das sehr individuell ist. Ganz kurze Rückfrage, das Bracing, von dem du gerade gesprochen hast, was bedeutet das?

Philip Hielbig

Beim Bracing ist die Bauchspannung relativ hoch. Es handelt sich dabei um „Schutzanspannungen“, kann man so sagen, die dann angewandt wird, wenn eine Bewegung durchgeführt wird, bei der der Patient im Vorhinein schlechte Erfahrungen gemacht hat. Und dann verhindert diese erhöhte Bauchspannung, dass der Rückenstrecker ebenfalls locker gelassen werden kann, weil diese Kokontraktion damit gefördert wird. Und damit wird die Bewegung erst mal weniger mobil. Die wird immobiler und Steifigkeit ist eben auch nach Daten assoziiert mit erhöhtem Rückenschmerz. Und die Bewegung lässt sich nicht mehr wirklich im vollen Range of Motion durchführen. Zusätzlich kommt nochmal dazu, dass der Rückenstrecker selber durch die Kokontraktion des Bauches weniger Durchblutung zulässt, was natürlich auch dazu führen kann, dass Entzündungsmediatoren, auch Lactat beispielsweise, weniger gut ausgeschwemmt werden können in der Muskulatur, was insgesamt auch wieder zu einer Sensibilisierung führen kann. Und diese Hypersensibilisierung oder diese Sensibilisierungsprozesse in der Peripherie, im Gewebe, aber natürlich auch im Zentralnervensystem bei wirklich chronischen Schmerzpatienten, machen die Bewegungen dann nochmal schwerer. Das ist dann dieser Negativkreislauf, aus dem es dann schwierig ist, auch auszubrechen.

Kai Gruhn

Das heißt, wenn ich dich richtig verstehe, wäre es schon wichtig, die Patienten zu differenzieren und vielleicht auch ein bisschen in diese vier Gruppen einzuteilen, von denen du gerade gesprochen hast. Und das andere, was ich rausgehört habe, ist, es ist extrem wichtig, mit den Patienten zu sprechen und herauszufinden, was für ein Krankheitskonzept sie haben, beziehungsweise wovor sie Angst haben, was möglicherweise auch die Schmerzen aus ihrer Sicht hervorgerufen hat, richtig?

Philip Hielbig

Ganz genau, ja. Also diese vier Einteilungen sind wichtig, wobei ich weiß nicht, wie häufig du bei deinen Patienten in der Klinik tatsächlich eine Red Flag schon erkannt hast. Kannst du das einschätzen?

Kai Gruhn

Was natürlich relativ gesehen dann häufig vorkommt, ist eine Radikulopathie. Also dass ich dann schon ausstrahlende Schmerzen habe oder auch eine Fußheberschwäche mal dazu kommt, also eine neurologische Symptomatik. Oder was ich im Krankenhauskollektiv auch im Vergleich dann relativ häufig sehe, ist eine Spondylodiszitis. Frakturen kommen immer mal wieder vor. Das muss man auch sagen. Mit so einer inkompletten Paraparese oder einer Querschnittssymptomatik, die dann immer ja auch nicht so so akut oder so sichtbar ist, wie man sich das so im Buch sieht. Aber im überwiegendsten Fall, also die 90 Prozent würde ich auf jeden Fall unterschreiben, das sind wirklich dann diese Schmerzen, die eben extrem hoch sind, vielleicht auch so ein bisschen ausstrahlen, aber wo man keinen spezifischen Grund und vor allem keine neurologischen Auffälligkeiten findet.

Philip Hielbig

 Da kann man sich mal die Studie Henschke 2009 anschauen, ist auch schon wieder ein bisschen älter, aber immer noch aktuell. Da waren bei 3172 Patienten mit über 80 Prozent, die einen Red Flag in der Anamnese gezeigt haben, am Ende nur 0,9 Prozent tatsächlich relevant. Das heißt, diese Red Flags im Allgemeinen sind natürlich auch mit Vorsicht zu genießen, weil die Wahrscheinlichkeit erst dann größer wird, wenn wirklich viele von diesen Red Flags auftreten. Wenn man sich zum Beispiel höheres Alter als dann dass sich dieses Red Flag vornimmt, dann wird man bei jedem Patienten denken, oh Gott, oh Gott, der hat ja auch eine. Und da muss man so ein bisschen vorsichtig sein. Und das ist natürlich auch abhängig vom Klientel, das man in der Praxis oder in der Klinik hat. Ich arbeite in der niedergelassenen Praxis, in der Physiotherapiepraxis, in Kooperation mit Orthopäden und Neurologen, die niedergelassen sind, die sich natürlich den Patienten vorher angeschaut haben und dann zu uns schicken. Und dann ist die Wahrscheinlichkeit bei uns natürlich noch mal größer, dass das unspezifische Rückenschmerzpatienten sind. Und wie gesagt, da muss man ein bisschen Trial and Error machen, was diese mechanische Beeinflussbarkeit angeht. Heißt, es hat jemand eine Richtungspräferenz. Bei einem unteren Rückenschmerz ist es häufig so, dass die Extension im Liegen zum Beispiel noch ganz klassisch, was natürlich McKenzie auch schon propagiert hat vor langer Zeit, sehr hilfreich. Das heißt, man legt den Patienten auf den Bauch. Und er drückt sich dann nach oben ab. Das hilft dann kurzfristig. Macht ihn natürlich aber, was den weiteren Verlauf angeht, jetzt nicht zu einem aktiveren Menschen. Und damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Rückenschmerz auch wiederkommt, sehr, sehr groß. Und da sind wir schon bei so einem biopsychosozialen Modell, das da angebannt werden sollte oder das wir im Hinterkopf haben sollte. Das glücklicherweise vor vielen Jahren von Engel aus dem biomedizinischen Modell zu einem etwas umfangreicheren Modell umgemünzt worden ist, wo wir eben uns auch die kognitiven Faktoren noch mit anschauen. Und wir haben das Glück in der Praxis, dass wir Patienten oft sehr lange begleiten können. Von einer Therapie mit zwei oder drei Sitzungen die Woche, kann man dann irgendwann auf Therapiesitzungen alle 2-3 Wochen reduzieren, weil viele Patienten sehr, sehr selbstwirksam werden und selbstständig verstehen, dass allgemeine Aktivität, ganz allgemein gesprochen, auch helfen kann, ein deutlich geringeres Risiko zu haben, im weiteren Verlauf Rückenschmerzen zu erlangen. Das ist so ein bisschen unsere Aufgabe, glaube ich, in der Physiotherapie. Einmal die Aufklärung, die Trainingstherapie, die Aktivierung, aber auch die Aufklärung über die Aktivierung gleichzeitig natürlich. Vielleicht ein bisschen manuelle Therapie, ganz wenig, also als Sekundärtherapie erst mal zur Einschätzung des Schmerzes. Ist es ein nozizeptiver Schmerz? Ist er mechanisch getriggert? Kann man den klinisch irgendwie provozieren? Dafür ist manuelle Therapie dann schon auch in Ordnung. Man darf das jetzt nicht nur verteufeln, weil ja gerade der Evidenzhype dagegen spricht. Aber das darf man. Und dann im weiteren Verlauf geht es natürlich um die Motivierung und auch um die Konditionierung. Also viele Rückenschmerzpatienten neigen auch im weiteren Verlauf dazu, dass sie sich durch die wenige Aktivität im Ausdauerbereich, also VO2 max, Sauerstoffverarbeitung und so weiter, immer schlechter werden. Und dann natürlich auch Vermeidungsverhalten beim Treppensteigen anwenden, weil sie sehen, es tut ihnen nicht gut oder so. Aber da müssen sie häufig erst mal durch, um dann wieder besser zu werden.

Kai Gruhn

Mir ist aufgefallen, dass inbesondere bei älteren Patient*innen das Thema Wärme und Massage als wirksames Mittel gegen Rückenschmerzen tief verankert sind. Wie sieht es da aus Deiner Sicht im Hinblick auf die Wirksamkeit aus?

Philip Hielbig

Nein, bei akuten Rückenschmerzen gibt es dazu geringe Empfehlungen und moderate Evidenz. Es ist ziemlich egal, ob du Massage, Wärme oder Pflaster oder eine Fango auflegst oder vielleicht eine heiße Rolle machst. Peter O’Sullivan hat mal gesagt, das ist so ein bisschen wie „scratching an itch“, also wie ein Hautreiz, den man juckt, das fühlt sich kurz gut an und dann im weiteren Verlauf kommt er aber wieder. Das heißt, es ist wirklich für die langfristigen Effekte nicht zu empfehlen und auch nicht Teil der Leitlinien. Ich glaube, in den englischen Leitlinien ist sogar jede Form von passiven Maßnahmen bei Rückenschmerzen ausgeklammert worden. Und bei uns hat es ganz, ganz geringe Evidenz und geringste Empfehlung in dem Bereich. Aber es kann natürlich helfen, um zum Beispiel bei Rückenschmerzpatienten, die wirklich akut sind, die Therapie, die Aktivität zu erleichtern. Das heißt, wenn die Patienten kommen und man legt sie dann erstmal 20 Minuten oder 15 Minuten von mir aus in die Fango mit in Stufenlagerung, kann es sein, dass im Anschluss dann das Finden der präferierten Bewegungsrichtung und auch die Aktivierung etwas leichter fällt. Also das ist so die Erfahrung, die ich auch gemacht habe, dass das helfen kann. Definitiv. Aber wie gesagt, es ist eigentlich nur eine Kombinationstherapie oder eine begleitende sekundäre Variante. Niemals eine Primärtherapie. Das darf nie alles sein.

Kai Gruhn

Ja, klar. Vielleicht kannst du noch mal sagen, weil du hast ja gerade ganz viele Faktoren beschrieben, die eine Rolle spielen bei der Schmerzentstehung, bei der Schmerzerhaltung. Wie würdest du dich so einem Patienten nähern? Also angenommen, du würdest zu jemandem gerufen werden, der im Krankenhaus liegt und der starke Schmerzen hat und der praktisch auch das Bett nicht verlassen hat, weil er so starke Schmerzen hat. Und die ärztlichen Kollegen haben vielleicht auch schon gesagt, da sind keine Red Flags zu sehen, kannst du dir den Patienten mal anschauen? Was würdest Du tun?

Philip Hielbig

Ich würde die Patient*in zunächst mal einen Fragebogen ausfüllen lassen, den STarT Back beispielsweise von Hill validiert, in der Zwischenzeit auch durch Sven Karstens ins Deutsche übersetzt, und mir anhand der Testergebnisse anschauen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass dieser Patient im weiteren Verlauf Schmerzen behalten wird. Oder wie ungünstig ist die kognitive Einstellung zu seinem Rückenschmerz, wie ist die Affektion, also der Umgang mit Schmerz? Und das ist in diesen neun Fragen ganz gut mit enthalten und auch validiert. Dafür sehr zuverlässig für diese Abfrage und trotzdem am Ende natürlich nur ein Fragebogen. Also man darf den Fragebogen jetzt auch nicht überschätzen in seiner Fähigkeit. Hilft mir aber immer ganz gut, um die erste Einschätzung mal zu bekommen. Ich kann mal so eine Aussage aus dem Fragebogen vorlesen, den die Patienten auswählen können: „ich fühle, dass ich schreckliche Rückenschmerzen habe und dass sie nicht mehr besser werden“ oder „im Allgemeinen habe ich keine Freude an Dingen, die ich sonst gerne mache, für eine Person in meinem Zustand ist es wirklich nicht ratsam, körperlich aktiv zu sein.“ Wenn ich da sehe, das trifft zu für diesen Patienten, dann weiß ich schon mal, dass die Edukation eine größere Rolle spielt. Das würde ich auf jeden Fall mit einbringen, ohne die Patient*in zu sehr damit zu überrumpeln, sondern ihn erst mal fragen, was er über seinen Schmerz denkt. Und dann geht es nach diesen drei Kategorien: geringes Risiko, mittleres Risiko oder hohes Risiko. Bei einem niedrigen Risiko würde ich gleich zu Beginn mit der Bewegung starten, die ihm den Schmerz seiner Meinung nach gebracht hat. Die Bewegung anschauen und sie versuchen zu modifizieren. Das heißt Beckenkippung kann zum Beispiel eine Rolle spielen bei der Beugung nach vorne. Wenn er den Schmerz beim runden Rücken vor allem aufweist, kann es häufig helfen, dass man den Patienten unter dem Rücken in die Extension bringt, dann über die Hüfte, also hüftdominant beugen lässt und kann schon dann Schmerz reduzieren. Und häufig ist dann eine Frage ganz entscheidend und zwar bei der Beugung selbst, weil die ist ja wirklich im klassischen Hexenschussmuster eigentlich die höchst verteufelte Bewegung. Ich frage den Patienten im Vorfeld, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wenn sie sich jetzt nach vorne beugen, dass dann ihr Rückenschmerz auftreten wird? Nachdem wir auch schon ein bisschen darüber gesprochen haben und Modifizierung der Bewegung besprochen hatten. Und dann sagen die Patienten häufig, vielleicht 70 bis 80 Prozent oder so.

Philip Hielbig

Dann lasse ich ihn die Bewegung machen und im besten Fall kommt der Schmerz dann eben nicht. Und dann ist es häufig ein Prädiktionsfehler. Das heißt, der Patient hat die Situation falsch eingeschätzt. Sein Kopf, sein Gehirn hat die Situation falsch eingeschätzt. In der entsprechenden Umgebung natürlich. Also, die assoziativen Faktoren spielen auch eine Rolle. Und dann lernt das Gehirn und weiß, die Bewegung an sich ist vielleicht gar nicht mehr so der Teufel. Sondern eventuell hat sich da etwas, ja, verselbstständigt. Und das ist dann immer eine ganz gute Möglichkeit, darauf aufzubauen. Kann natürlich auch sein, dass der Schmerz kommt. Dann muss man sich was anderes überlegen. Aber in den meisten Fällen muss man sagen, ist das dann eher möglich. Bei den ganz akuten Rückenschmerzpatienten muss man erst mal die Bewegung aus anderen Positionen einnehmen. Vierfüßlerstand zum Beispiel. Statt nach vorne beugen aus dem Stand den Kontext ändern, im Vierfüßlerstand versuchen, die Bewegung im Becken einzuleiten. Hannu Loumajoki, ein Professor für Physiotherapie aus der Schweiz hat ein Konzept entwickelt für motorische Kontrollmuster. „Motor Control Impairment“ nennt er das. Dabei wird darauf eingegangen, dass Patienten mit Rückenschmerzen häufig veränderte und schlechtere Kontrolle des unteren Rückens haben und durch die Modifizierung dieser Kontrolle der Rückenschmerz nicht kausal besser wird, aber die Wahrscheinlichkeit höher werden kann, dass man sich natürlicher bewegt, die Funktion schneller wieder zurückkommt und dann im weiteren Verlauf die Wahrscheinlichkeit für eine Verstärkung oder für ein persistierendes Rückenschmerz geringer wird. Das wäre die motorische Kontrolle, Aufklärung, Aktivität, die den Schmerz ausgelöst hat und Modifizierung der Bewegung.

Kai Gruhn

 Es ist einfach sehr interessant, wie unterschiedlich die Herangehensweisen sind. Das zeigt einfach nur, wie wichtig es ist, dass ein interdisziplinäres Team, ein interprofessionelles Team sich das anschaut und sich dem Problem annimmt. Aus deiner Erfahrung, was würdest du sagen: dieser Reflex, dass man immer mehr Schmerzmedikamente gibt und relativ rasch auch nach dem WHO Schema steigert, ist das hilfreich oder ist das eher vielleicht sogar kontraproduktiv, wenn man sich das langfristig anschaut?

Philip Hielbig

Ja, also bei einem neuropathischen Schmerz ist das am Anfang zum Beispiel schon wichtig, dass man auch Opiate gibt, um die Wahrscheinlichkeit, dass der Schmerz nach zwölf Wochen noch da ist, massiv zu reduzieren. Da kennst du dich besser aus. Aber meine Erfahrung ist, bei unspezifischen Rückenschmerzen, und da kennen wir auch Studien, Open Label Placebo Studien sogar, dass bei einem unspezifischen Rückenschmerz Ibuprofen, Diclofenac und andere NSAR, weniger gut wirkt als ein Placebo Präparat, zu dem man einfach sagt, wie es wirkt. Und sagt, das wird Ihnen helfen. Und Ihr Rückenschmerz wird jetzt besser werden, weil Ihr eigener Körper körpereigene Substanzen ausschütten kann, Opiate ausschütten kann auf Mesencephalon- und Rückenmarks-Ebene, die den Schmerz hemmen können. Und das ist dann in der Kombination für den Patienten manchmal hilfreicher, so ein paar Worte noch zusätzlich, als die Abnahme der körpereigenen Schmerzhemmenden Prozesse, die ja da sind. Also das periaquäduktales Grau macht ja Schmerzen. Das können wir eigentlich selber. Wir haben ja die Apotheke im Kopf. Durch Aktivität können wir die Tür öffnen, sage ich immer zu den Patienten. Und wir haben keine Nebeneffekte. Das heißt, am Anfang kann man das schon machen und auch hoch dosiert, aber man sollte ganz schnell wieder zurückkommen, weil die Patienten diese Abhängigkeit, das ist die Erfahrung, die ich da einfach gemacht habe, dann auch irgendwie zelebrieren und natürlich nicht für gut heißen. Aber sehen, dass es nur noch so geht und die Selbstwirksamkeit wird dadurch nicht gefordert. Selbstwirksamkeit ist psychologisch ganz wichtig, dass man sich nicht hilflos fühlt, wenn der Schmerz kommt und wenn man mal das Medikament nicht da hat und nicht weiß, was man tut. Von daher ist der aktive Ansatz mit Sicherheit der bessere und auch der evidenzbasiertere.

Kai Gruhn

Patienten, die sich diesem Schmerz ergeben und auch immer zum Therapeutenteam kommen und sagen: Was könnt ihr noch machen, helft mir, das hilft alles nicht. Und da gerät man ja häufig in einen in einen Zyklus, den man nicht mehr auflösen kann. Da ist es gut, das umzudrehen und dem Patienten zu signalisieren, dass er den Schmerz durch Bewegung und Training selbst positiv beeinflussen kann. Für jemanden, der jetzt aus einem akuten unspezifischen Rückenschmerz rausgekommen ist, was wären so deine Empfehlungen für das weitere Prozedere? Welche wissenschaftlichen Daten gibt es dazu?

Philip Hielbig

Ausdauertraining zu machen in der Kombination mit Krafttraining. Da kann man sich auch an die WHO halten mit 75 Minuten intensiver Trainingstherapie oder intensivem Ausdauertraining pro Woche, oder eben moderater Intensität für mindestens 150 Minuten in der Woche. Das heißt, zwei bis dreimal, vielleicht sogar viermal Ausdauersport in der Woche kann helfen. Und zwei bis dreimal die Woche Krafttraining. Das wäre die ideale Vorstellung. Und zusätzlich wäre kognitiv noch ganz entscheidend, dass, wenn der Rückenschmerz kommt, man dann eben keine passiven Maßnahmen anwendet, nicht dazu tendiert, sich hinzulegen und das Wärmekissen sich unter den Rücken zu legen. Kann man natürlich auch machen, aber die erste Idee sollte sein, dass man sich aktiv dagegen durchkämpft und vielleicht die Bewegungsrichtung, die wir vorher besprochen haben, erstmal anwendet, also kompensatorische, ausgleichende Bewegung durchführt und außerhalb dessen sich einfach versucht, so aktiv wie möglich vielleicht auch im Alltag zum Arbeitsplatz zu bewegen. Mit dem Fahrrad fahren statt mit dem Auto oder zu joggen morgens schon vor der Arbeit. Was auch hilfreich ist, ist wenn man versucht Statik zu durchbrechen. Das heißt vor allem, Sitztäter, Schreibtischtäter, Büromenschen sollten schauen, dass sie unterschiedlich sitzen. Das ist gar nicht so toll, wenn man immer die aufrechteste Position für sich findet und dann sagt, das ist die einzige Position, in der ich jetzt sitzen darf, sondern im Gegenteil.

Philip Hielbig

Man sollte versuchen, Positionen aufzubrechen. Das heißt, das richtige Sitzverhalten steht über der richtigen Sitzposition. Die gibt es laut Datenlage so gar nicht, sondern das Verhalten ist entscheidend. Häufiger mal aufstehen, zur Kaffeemaschine spazieren, wieder zurück und sich dann hinsetzen oder stehen bleiben. Wobei auch stehen natürlich über einen langen, langen Zeitraum genauso schwierig sein kann für die Empfindung von Rückenschmerzen wie nur zu sitzen. Also es gibt einfach nicht die eine Sitzposition. Und ich glaube, das ist auch ein Prozess, den man sich im Laufe seiner Rückenschmerzkarriere durchlaufen muss. Die Lebenszeitprävalenz ist ja bei 75 bis 80. Also wir haben fast jeder einmal Rückenschmerz gehabt in unserem Leben. Aber wir wissen auch irgendwann, dass es kommt und geht und vielleicht so ähnlich ist wie ein Schnupfen, oder? Dass es jetzt nichts ist, was für immer bleiben muss und dann geht es darum, wie gehe ich eigentlich um mit meinem Schnupfen im Rücken? Und kann ich den vielleicht schneller wieder wegbekommen durch Aktivität? Und die Erfahrung muss man auch selber machen und dann geht das eigentlich ganz gut und ganz schnell. Meistens ist auch noch ein bisschen schwierig, dass der Nachbar oder die Freunde oder wer auch immer schon mal gehört haben, dass man eingerenkt werden muss und dass es knacken muss im Rücken beim Therapeuten. Und dann hat man irgendwas verschoben und dann geht es wieder weiter. Und das sind natürlich auch Informationen, vor denen man sich schützen muss. Und deswegen empfehle ich meinen Patienten, dass man da vielleicht auch was liest zu dem Thema. „Schmerzen verstehen“ beispielsweise von Lorimer Moseley und David Butler. Ja, ganz tolles, ganz tolles Werk. Kann man vielleicht in den Show Notes auch nochmal mit einfügen, dass man als Patient auch einfach so ein bisschen liest, von Experten liest, die trotzdem mit Patientensprache schreiben können. Was ist denn eigentlich State of the Art und wie kann ich mir selber helfen? Wie kann ich mich auch schützen vor diesen ganzen Disinformationen, die einen krank machen können oder dazu beitragen können natürlich. Ich hatte eine Patientin, Ich werde das nie vergessen vor, das ist schon ein bisschen länger her, die sich schon lange nicht mehr getraut hatte, aus dem Hohlkreuz rauszugehen, weil ihr mal ein Orthopäde und dann auch Freunde von ihr gesagt haben: „Du, ein runder Rücken ist ganz, ganz dramatisch.“ „Das kann dazu führen, dass deine Bandscheibe hinten rausspringt.“ Und die hat sich das nicht mehr getraut.

Philip Hielbig

Du kannst dir vorstellen, wie jemand sich bewegt, der denkt, „Ich bin instabil im unteren Rücken.“ „Die Bandscheibe kann jederzeit rausspringen, wenn ich den Rücken kurz ein bisschen nach hinten bewege. Und das auch noch von einem Arzt im weißen Kittel gehört hat. Dann wird es schwierig. Dann gibt es Patienten, die haben eine Persönlichkeitsstruktur, die machen dann gar nichts mehr. Und die hat geweint, als ich ihr gesagt habe, dass sie den Rücken ruhig rund machen kann. Also es war ganz, ganz schwierig. Das sind ein bisschen wie Gedankenviren, die bei vielen Patienten dann drin sind und drin stecken, die du so leicht nicht mehr rausbekommst. Und trotz allem müssen wir da versuchen, so gut es geht, einfach pragmatisch und rational darüber aufzuklären, dass sie sich keine Sorgen machen muss. Und dann eben mit den Informationen kommen. Und Brinjikji 2015 ist vielleicht auch eine Arbeit, die man erwähnen sollte, der bei vielen tausend Patienten gezeigt hat, dass auch Patienten ohne Rückenschmerzen in der MRT strukturelle Veränderungen der Wirbelsäule haben. Das heißt, die strukturelle Veränderung ist immer nur ein Faktor von sehr vielen, die das Fass eben zum Überlaufen bringen können. Und das kann als Information schon sehr viel helfen, glaube ich.

Kai Gruhn

Das ist ein Beispiel, das ich meinen Patienten auch immer nenne, die oft so viel Wert legen auf die Bildgebung. Du hast gerade ganz viele tolle Sachen gesagt. Diese Mythen, gegen die man ankämpfen muss, die aber eine ganz große zentrale Rolle spielen bei dem Schmerzverständnis für den Patienten. Das ist was, was man natürlich nicht von heute auf morgen wegbekommt. Aber ich finde es toll, was du gesagt hast. Ja, dann kann man ja auch den Patienten ermutigen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, vielleicht mal ein Buch zu lesen, vielleicht mal ein bisschen zu recherchieren, wobei man natürlich immer gucken muss, was man für Medien empfiehlt. Aber auch das mit dem Einrenken, das sind ja Sachen, die immer wieder hochkommen und sich ganz hartnäckig halten, aber die Gesundung natürlich langfristig erschweren. Und jetzt haben wir das Thema Operation ja auch noch gar nicht angesprochen. Also ich habe schon so viele Patienten gesehen, die Schrauben hinten im Rücken haben und wo man sich fragt, was war die Indikation eigentlich dafür? Naja, also wir sollten für heute Schluss machen. Ich danke dir ganz herzlich. Du hast ganz viele spannende Aspekte genannt. Es ist klar, dass es eine hochindividuelle Herangehensweise sein muss, aber die Beispiele, wie man sich den Patienten in der Akutphase nähern kann, sind sehr anschaulich und sehr hilfriech gewesen. Da danke ich dir für. Also danke dir für die Zeit.

Philip Hielbig

Danke dir auch Kai.

Sprecher

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