Differentialdiagnosen von Synkopen – mit Prof. Rolf Diehl

Jul 4, 2023 | Podcasts, Transkripte

Folge #50 im Klinisch Relevant Podcast, Erstveröffentlichung im Mai 2020 

Zusammenfassung

Prof. Rolf Diehl ist Neuropsychologe am Alfried-Krupp-Krankenhaus in Essen-Rüttenscheid, wo er unter anderem das „autonome Labor“ leitet. Rolf Diehl ist federführender Autor der aktuellen Leitlinie zum Thema Synkopen.

Definition von Synkopen

Synkopen werden als Ohnmachtsanfälle definiert, die aus einer globalen Minderung der zerebralen Durchblutung resultieren. Im Gegensatz dazu steht z.B. eine Ohnmacht durch eine Hypoglykämie. Synkopen werden grob in kardiogene und neurogene Synkopen unterteilt.

Kardiogene Synkopen

Eine häufige Ursache für kardiogene Synkopen ist z.B. ein AV-Block oder andere Herzrhythmusstörungen. Kardiogene Synkopen treten häufig ohne Prodromi – „wie aus dem Nichts“ auf.

POTS

Eine Sonderform der Synkopen ist das sog. posturale Tachykardiesyndrom (POTS). Ursache ist eine Überaktivierung des Sympathikus.

Neurogene Synkopen

Neurogene Synkopen, also Synkopen, die aus einer Funktionsstörung des peripheren oder zentralen Nervensystems resultieren, werden noch einmal unterteilt in vasovagale Synkopen („Reflexsynkope“) und die orthostatische Hypotension. Synkopen im Rahmen eines vasovagalen Reflexes (Hemmung des Sympathikus) treten typischerweise nach längerem Stehen, beim Anblick von Blut oder einem Schmerzreiz auf. Synkopen bei orthostatischer Hypotension führen zu einer Synkope kurz nach dem Aufstehen aus dem Sitzen oder Liegen. Klassischerweise gehen beiden Synkopen-Formen mit Prodromi wie Unwohlsein, „Schwarz- werden“ vor den Augen, Schwindel und Kaltschweißigkeit einher.

Ursachen von neurogenen Synkopen

Beim Vorliegen von neurogenen Synkopen muss nach einer neurologischen Grunderkrankung geforscht werden. Häufigste Ursache für diese Form der Ohnmachtsanfälle sind periphere Neuropathien wie die diabetische Polyneuropathie. Differentialdiagnostisch müssen aber auch Systemerkrankungen wie ein M. Parkinson oder eine Multisystematrophie abgeklärt werden.

Diagnostik im „autonomen Labor“

Prof. Diehl empfiehlt im Hinblick auf die sinnvolle Diagnostik bei Ohnmachtsanfällen folgende 4 Säulen:

  1. Anamnese
  2. körperliche Untersuchung
  3. 12-Kanal-EKG
  4. aktive Stehtest (früher Schellong-Test)

Dabei können bereits durch eine intensive Eigen- und Fremdanamnese wichtige Hinweise für die Ätiologie der Ohnmacht gesammelt werden. Mit Hilfe des EKGs können kurzfristig relevante Herzrhythmusstörungen herausgefiltert werden, die das weitere diagnostische Vorgehen maßgeblich beeinflussen. Der sog. aktive Stehtest dauert im Vergleich zum Schellong-Test nur noch 3 Minuten und umfasst die Blutdruck- und Puls-Messung nach dem Aufstehen.

Konvulsive Synkopen

Häufig kommt es im Rahmen von Synkopen zu kurzen motorischen Entäußerungen (typischerweise arrhythmisch) der Extremitäten, die Beobachter dazu verleiten können von einem epileptischen Anfall zu sprechen. Diese unwillkürlichen Bewegungen werden im Rahmen der zerebralen Minderperfusion aus Arealen im Hirnstamm und in den Basalganglien generiert und sind nicht epileptogenen Ursprungs.

Transkript des Interviews

Einleitung

Herzlich willkommen beim Medizinerpodcast von Klinisch Relevant. In der nächsten Dreiviertelstunde hörst du ein Gespräch, das wir mit dem Essener Neuropsychologen Professor Rolf Diehl geführt haben. Professor Diehl leitet am Alfred Krupp Krankenhaus in Essen Rüttenscheid das autonome Labor und wir sprachen mit ihm über die Pathophysiologie und Diagnostik von Synkopen inklusive therapeutischer Ansätze. Wir hoffen, dass der Beitrag dir dabei hilft, synkopale Ereignisse in Zukunft besser einordnen zu können und eine zielgerichtete Diagnostik in die Wege zu leiten. Nebenbei bemerkt: Dies ist der 50. Audiopodcast von Klinisch Relevant. Daher möchten wir uns bei euch allen bedanken, die uns in den letzten Monaten die Treue gehalten haben und uns auch immer wieder motiviert haben, weiterzumachen. Insofern alles Gute für euch und bis bald!

Dietrich Sturm

Hallo und herzlich willkommen zum Klinisch Relevant Medizinerpodcast. Wir sitzen heute zusammen mit Professor Rolf Diehl. Rolf Diehl ist Neuropsychologe und Leiter des autonomen Labors am Alfred Krupp Krankenhaus in Essen Rüttenscheid. Herr Diehl, vielen Dank für Ihre Zeit. Vielleicht haben Sie Lust, sich selber ganz kurz vorzustellen?

Rolf Diehl

Ja, gerne. Ich bin jetzt schon seit fast 30 Jahren an dieser Klinik. Ich bin damals mit Professor Berlit aus Mannheim hierher gekommen. Er hat damals für mich den interessanten Auftrag gehabt, neben dem Aufbau einer Demenzsprechstunde und eines neuropsychologischen Labors auch ein autonomes Labor hier aufzubauen. Das habe ich dann tatsächlich auch gemacht, mit dem Schwerpunkt auf der Kreislauf-Funktionstestung. Dieses Labor ist seither eins von etwa zehn vergleichbaren Laboren in ganz Deutschland. Wir sind also Anlaufstelle für dritte, und zum Teil auch vierte Meinungen von interessanten, seltenen Formen von Ohnmachtsanfällen.

Dietrich Sturm

Sie haben ja schon gesagt, autonome Labore gibt es nicht allzu häufig. Was muss ich mir denn vorstellen? Was passiert da und welche Diagnostik wird eingesetzt?

Dietrich Sturm

Ja, das autonome Labor ist sozusagen Kreislaufphysiologie, quantitativ richtig in die Klinik gebracht. Das, was man vielleicht sonst nur im Medizinstudium im Physiologie Praktikum macht, das machen wir hier tatsächlich bei Patienten. Das erfordert allerdings, dass man Instrumente hat, mit denen man physiologische Prozesse erfassen kann, die eben sonst nicht so leicht zugänglich sind bzw. nur semiquantitativ zugänglich sind. Im Speziellen ist da z.B. die kontinuierliche Blutdruckmessung und die kontinuierliche Pulserfassung ohne invasive Techniken zu nennen. Dafür sind sehr teure und seltene Instrumente notwendig und deshalb sind auch autonome Labore relativ selten.

Dietrich Sturm

Sie haben ja eingangs schon erwähnt: Sie befassen sich mit „Ohnmachtsanfällen“, also sicherlich auch mit Synkopen als häufiges und relevantes Krankheitsbild, nicht nur für den Neurologen, sondern auch für den Hausarzt und Internisten. Können Sie noch mal kurz und prägnant zusammenfassen: Wie wird eine Synkope definiert und wie häufig ist das eigentlich?

Rolf Diehl

Eine Synkope ist eine Sonderform eines kurzen Ohnmachtsanfalls. Bei der Gelegenheit: Viele Ärzte verwenden die Begriffe „Synkope“ und „kurzer Ohnmachtsanfall“ synonym. Das ist aber fatal. Das ist sozusagen schon der erste Fehler, den man in der Diagnostik macht, diese Gleichsetzung. Von einer Synkope spricht man nur dann, wenn eine Minderung der globalen Hirndurchblutung zu der Ohnmacht führt. Und das passiert in der Regel durch einen plötzlichen, relativ starken Blutdruckabfall.

Dietrich Sturm

Das heißt, eine Unterzuckerung zum Beispiel, die ja auch zu einer Ohnmacht führen kann, ist auf keinen Fall gleichzusetzen mit einer Synkope, wenn ich Sie richtig verstanden habe, weil es einfach völlig unterschiedliche pathophysiologische Mechanismen sind.

Dietrich Sturm

Genau, eine Unterzuckerung würde man nicht als Synkope bezeichnen. Im Übrigen verläuft eine Unterzuckerung auch nicht so abrupt und mit so klaren Grenzen des Beginns und des Endes der Ohnmacht wie bei einer Synkope, sondern zieht sich in der Regel länger hin und läuft zu den Rändern eher langsam aus.

Dietrich Sturm

Und innerhalb der Gruppe von Synkopen gibt es auch noch mal unterschiedliche Ursachen. Man kann unterscheiden: Es gibt kardiale Ursachen und neurokardiogene bzw. neurogene Ursachen. Wie gehen Sie da vor oder wie ist Ihre Einteilung?

Rolf Diehl

Also die Grundeinteilung besteht aus den kardialen Synkopen auf der einen Seite und den neurogenen Synkopen auf der anderen Seite. Vielleicht gehe ich ganz kurz auf die kardialen Ursachen ein. Ich habe ja eben gesagt, der gemeinsame Nenner aller Synkopen ist der kurzzeitige Abfall des systemischen Blutdrucks. Und bei den kardialen Synkopen liegt die Ursache entweder aus mechanischen oder rhythmologischen Gründen im Herzen. Zum Beispiel kann ein AV-Block zu einer Synkope führen, wenn das Herz ein paar Sekunden nicht schlägt und der systemische Blutdruck abfällt. Und genauso gut können mechanische Gründe (z.B. Ein Vorhofmyxom) dazu führen, dass die Auswurfleistung des Herzens vorübergehend gemindert wird und auch das zu einer Synkope führt. Das ist also die eine Gruppe der Synkopen, für die wir uns in der Neurologie naturgemäß nicht ganz so interessieren. Wir sind froh, wenn wir rasch entscheiden können, dass das in Richtung einer kardialen Synkope geht und wir den Patienten dann zur Weiterbehandlung an die kardiologischen Kollegen weitervermitteln können. Uns interessiert eigentlich die andere große Gruppe von Synkopen, nämlich die der neurogenen Synkopen.

Dietrich Sturm

Kann man die denn auch noch mal weiter untergliedern nach  ihren auslösenden Mechanismen?

Rolf Diehl

Ja, da ist es ganz wichtig, zunächst mal die zwei großen Gruppen zu unterscheiden. Diese zwei Gruppen werden sehr oft verwechselt. Deshalb gebe ich mir jetzt mal ein bisschen Mühe zu erklären, wie sie auseinanderzuhalten sind. Das Eine ist die orthostatische Hypotension und das Andere ist die vasovagale Synkope, die aber auch oft im Stehen ausgelöst wird. Wie ist das nun bei der orthostatischen Hypotension? Bei dieser Form der Synkope liegt in der Regel eine Störung der Sympathikusfunktion vor. Das heißt, der normale Sympathikusreflex nach dem Hinstellen, der eine Verengung der peripheren Widerstandsgefäße auslöst, funktioniert bei den Betroffenen nicht. Dadurch „versackt“ sozusagen im Stehen das Blut in die weit offenstehenden Gefäße in den Beinen und im Becken und der Blutdruck fällt abrupt ab. Das ist die orthostatische Hypotension, der dann wirklich oft auch eine ernsthafte neurologische Erkrankung zugrunde liegt, die die Nerven, oder auch die entsprechende Schaltzentrale im Gehirn schädigt. Da müssen wir zum Beispiel nach einer Multisystematrophie oder nach einem Parkinson-Syndrom suchen. Das Andere, was viel häufiger ist und viel gutartiger als die orthostatische Hypotension, ist die Gruppe der vasovagalen Synkopen, auch Reflexsynkopen genannt. Auch da tritt der Reflex oft im Stehen auf, allerdings üblicherweise, im Unterschied zur orthostatischen Hypotension, oft erst im Verlauf von längerem Stehen. Da setzt ein Hirnreflex ein, der auf einmal ganz aktiv den Sympathikus deaktiviert und den Vagusnerv aktiviert. Das führt dazu, dass die Gefäße sich erweitern und das Blut „versackt“. Und zusätzlich wird durch die Aktivierung des Vagus auch noch der Herzschlag verlangsamt. Hier wird sozusagen durch diesen „Doppelschlag“ der Blutdruck herabgesenkt und es kommt zur Ohnmacht.

Dietrich Sturm

Also, wenn ich Sie richtig verstanden habe: Die othostatische Hypotension ist eher an den Lagewechsel gebunden und tritt dann nach einer kürzeren Standphase auf. Und die klassische, vasovagale Synkope, die Reflexsynkope, tritt unter anderem nach einer längeren Standphase auf, bei der es, nach dem Eintreten des venösen Poolings, im zeitlichen Verlauf erst zu einer Aktivierung eines Reflexes kommt. Die Standphase vorher war also bei der vasovagalen Synkope wesentlich länger als bei der orthostatischen Hypotension. Stimmt das erstmal so?

Rolf Diehl

Das ist richtig. Man muss aber noch etwas ergänzen und jetzt wird es auch für den philosophisch und evolutionstheoretisch orientierten Arzt richtig interessant. Es gibt noch eine Reihe anderer auslösender Mechanismen als das lange Stehen bei den vasovagalen Synkopen. Zum Beispiel reicht es bei manchen Menschen bereits aus, dass sie einfach nur Blut oder eine fiese Verletzung sehen, damit dieser Reflex ausgelöst wird. Bei anderen führen Reizungen an bestimmten Körperstellen, zum Beispiel beim Wasserlassen, wenn das kurzfristig weh tut, dazu, dass eine solche Synkope ausgelöst wird. Ein weiterer Auslöser könnte sein, wenn man sich einen plötzlichen Schmerz zufügt. Und wenn man dann nach einem gemeinsamen Nenner dieser ganzen vasovagalen Situationen sucht, dann findet man da die Situation des Verblutens. Langes Stehen führt genauso wie Verbluten dazu, dass die zentralen Blutspeicher in den Lungengefäßen angezapft werden und dass der zentrale Venendruck immer mehr abfällt. Da hat also sozusagen die Evolution, als sie sich diesen Reflex ersonnen hat, die Situation des Verblutens vor Augen gehabt. Und ähnlich ist es ja bei den anderen Situationen ohnehin. Sie sehen Blut und ihr Herz schlägt auf einmal langsamer. Und worauf das Ganze abzielt und warum sich das durchgesetzt hat in der Evolution, ist die Tatsache, dass es beim Verbluten, also wenn sie eine große Wunde haben, hilft, wenn der Blutdruck gesenkt wird, damit der Druck auf die offenen Gefäße sinkt und die Gefahr des Verblutens gemindert wird. Das ist also sozusagen der evolutionäre Hintergrund dieser vasovagalen Synkopen.

Dietrich Sturm

Also ist es ein evolutionsbiologischer Vorteil, dass die „Natur“ sagt: „Ich knipse dir kurz das Licht aus, bevor du verblutest und dein Leben ganz zu Ende ist, damit du zum Liegen kommst und der Blutverlust gestoppt wird“. So könnte man das etwas salopp zusammenfassen?

Rolf Diehl

Genau. Nur, dass das in unserer modernen Zivilisationswelt dazu führt, dass in jeder Menge Situationen, wo man gar nicht am Verbluten ist, sondern wo nur entsprechende Assoziationen da sind, dieser Mechanismus auch zu Ohnmachtsanfällen führt. Das macht das Ganze dann heutzutage zum Problem für uns.

Dietrich Sturm

Jetzt haben wir ja schon ein bisschen über die pathophysiologischen Hintergründe gesprochen. Können Sie für uns noch einmal die typischen klinischen Merkmale einer Synkope schildern? Vielleicht auch, ob es bestimmte Vorzeichen gibt, wie lange eine Synkope anhält und wie man sie vielleicht auch vom differenzialdiagnostisch häufig erwogenen epileptischen Anfall abgrenzen kann?

Rolf Diehl

Ja, vielleicht greife ich mal die erste Frage von Ihnen heraus: Wie kann man unterschiedliche Ursachen von Synkopen vielleicht schon durch die Anamnese herausbekommen? Ich will das hier schon mal verraten: Die Anamnese ist der Königsweg zur Diagnose bei den Synkopen. Da fragt man nämlich nach den Prodromi, nach Vorläufersymptomen, bevor es zur Ohnmacht kommt. Und da ist es typisch für die kardialen Synkopen, also die, wo die Ursache im Herzen liegt, das keine oder extrem kurze Prodromi da sind. Die Menschen fallen einfach hin wie ein Baum und merken vorher gar nichts und haben praktisch gar keine Zeit, sich abzustützen oder irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen zu treffen. Es ist halt so, dass diese Problematik im Herzen, die Rhythmusstörung oder das mechanische Auswurfhindernis, relativ abrupt auftreten. Der Blutdruck fällt abrupt ab und man merkt praktisch nichts und wird ohnmächtig. Anders ist es bei den neurogenen Synkopen. Ich nenne mal als Erstes die orthostatische Hypotonie. Sie erinnern sich, das ist die Form, wo es eine Schädigung des Sympathikusnerven gibt und deshalb keine Vasokonstriktion stattfinden kann. In diesem Fall stellen Sie sich hin, der Blutdruck fällt allerdings nicht sofort von 120 mmHG systolisch auf 60 mmHG systolisch, sondern das braucht so ungefähr eine Minute. Das kann man auf dem Kipptisch sehr schön studieren, dass das dann doch nicht ganz abrupt, sondern etwa mit einer Minute Verzögerung stattfindet. Und das kriegen Sie auch mit. Der Patient mit einer orthostatischen Hypotonie sagt: „Ich merke, dass mir langsam flau wird und gucke dann auch schon nach einem Stuhl. Und ich werde eigentlich nur dann ohnmächtig, wenn es mir nicht gelingt, mich rechtzeitig hinzusetzen“. Ähnlich ist es bei der vasovagalen Synkope auch. Da wird diese Hemmung des Sympathikusnervs, von der ich gesprochen habe, auch nicht von einer Sekunde auf die andere aufgebaut, sondern das kann sich oft über viele Minuten hinziehen. Und die Betroffenen merken dann auch, dass sich da etwas anbahnt. Deshalb gelingt es bei den neurogen Synkopen gottseidank sehr häufig, durch diese Prodromi die eigentliche Synkope zu verhindern.

Dietrich Sturm

Der Mensch fällt um, ist danach aber eigentlich relativ schnell wieder da. Also im Unterschied zum epileptischen Anfall ist die Reorientierung wesentlich schneller. Nun ist es aber dennoch so, meiner klinischen Erfahrung nach, dass Rettungssanitäter, Notärzte oder Angehörige häufig sagen: „Ja, der Mensch hat aber gezuckt, das muss doch ein Anfall sein“. Also man kommt in den Bereich der sogenannten konvulsiven Synkopen. Können Sie mechanistisch noch mal darlegen, wie diese motorischen Äußerungen entstehen?

Dietrich Sturm

Ja, da sprechen Sie etwas sehr Interessantes an, Herr Sturm. Die Konvulsionen, die auch bei einer Synkope auftreten können, werden ganz häufig von Zeugen beobachtet und dann auch dem Notarzt berichtet. Und das lenkt häufig sofort den Verdacht in Richtung auf einen epileptischen Anfall. Wer zuckt, hat einen epileptischen Anfall -das ist so in den Köpfen drin. Aber es ist in der Tat so, dass auch eine ganz normale Synkope, und das trifft für kardiale wie für neurogene Synkopen gleichermaßen zu, zu Zuckungen führen kann. Diese Zuckungen sehen aber anders aus, als die in der Regel relativ synchronen, rhythmisch stattfindenden Zuckungen beim Grand mal Anfall. Und da gehört die Kunst der Anamnese dazu, das aus dem Zeugen herauszuholen. Die Konvulsionen bei den Synkopen sind eher begrenzt auf bestimmte Körperbereiche. Das können auch mal nur Zuckungen an der Wange sein. Das kann ein Arm sein, der da in Mitleidenschaft gezogen wird. Manchmal ist es aber tatsächlich auch generalisiert. Aber das Typische, und das sieht man auf Videos, die davon gemacht worden sind, das ist nicht synchron. Das heißt, jede Gliedmaße hat sozusagen ihren eigenen Rhythmus bei diesen Konvulsionen. Das ist überhaupt kein epileptisches Phänomen, um das noch mal klar zu machen. Und diese Art von Konvulsionen kann man auch mit Antikonvulsiva überhaupt nicht verändern.

Dietrich Sturm

Und es wird auch nicht kortikal generiert.

Rolf Diehl

Genau, nicht kortikal. Das wird nach allen Modellen, die man hat, in den Basalganglien und im Hirnstamm generiert und ist ein Merkmal der abnehmenden Durchblutung in diesen Hirnarealen.

Dietrich Sturm

Ist das ein häufiges Begleitphänomen von Synkopen, also betrifft es mehr als die Hälfte oder ist es eher selten?

Rolf Diehl

Ich habe oft Fortbildungen gemacht mit Thomas Lempert, der ist Chef an der Schlossparkklinik in Berlin. Und der hat sehr schönes Filmmaterial erstellt über Studenten, die er sozusagen künstlich durch ein Valsalva-Manöver in eine Synkope bewegt und dabei gefilmt hat. Bei weit über 80 Studenten hat er gezeigt, dass praktisch jeder von denen, im Verlaufe seiner Synkope, an der einen oder anderen Stelle Zuckungen gezeigt hat. Also das ist eher ein häufiges Phänomen, welches aber oft an Körperstellen, die dem Zeugen nicht zugänglich sind stattfindet und deshalb nicht so häufig berichtet wird.

Dietrich Sturm

Also, um diesen Block noch mal zusammenzufassen: Es geht, bei kardialen Synkopen eher nicht, aber bei vasovagalen Synkopen häufig, mit einem gewissen Auftreten von Vorläufersymptomen einher, zum Beispiel Schwitzen, Unwohlsein, einem flauen Gefühl. Der Mensch fällt um und ist bewusstlos. In dieser Phase der Bewusstlosigkeit kann es auch durchaus häufig zu, in der Regel arrhythmischen, motorischen Äußerungen kommen, in Form einer konvulsiven Synkope. Und wenn der Mensch erwacht, tritt in Abgrenzung zu einem klassischen generalisierten epileptischen Anfall eine zügige Reorientierung ein. Habe ich es so richtig verstanden?

Rolf Diehl

Und es ist dann auch sehr hilfreich zur weiteren Abgrenzung einer Synkope von einem epileptischen Anfall, dass der Betroffene typischerweise nach einer Synkope innerhalb von spätestens einer Minute wieder voll reorientiert ist und sich auch wieder an die Zeit vor dem Anfall erinnert. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die doch meist relativ kurze Dauer von allerhöchstens drei Minuten bei einer Synkope. Bei allem was länger ist, muss man schon schwerst in Zweifel ziehen, dass es sich um eine Synkope handelt, denn längere Minderdurchblutungen kann das Gehirn gar nicht tolerieren, ohne dauerhaft Schädigungen zu nehmen. Da kommt diese drei Minuten Regel her. Es gibt eine Arbeit, die gezeigt hat, dass die allermeisten Synkopen sogar nur unter einer Minute dauern. Da sollte gezielt nachgefragt werden.

Dietrich Sturm

Nun ist ein Bewusstseinsverlust ja durchaus Ausdruck von schweren Erkrankungen, was dann häufig auch zur Anfertigung von cerebralen Bildgebungen führt in der Diagnostik. Ist das denn bei einer ganz typischen Anamnese Ihrer Meinung nach notwendig? Also muss ich bei einer jungen Frau, die eine typische Anamnese für eine vasovagale Synkope hat, zwingend ein CT in der Notaufnahme machen, oder ist das entbehrlich?

Rolf Diehl

Es ist sogar in meinen Augen kontraindiziert, weil sie gesagt haben „junge Frau“. Ich werde immer ziemlich wütend, wenn ich morgens bei uns in der Frühbesprechung sehe, dass bei sehr jungen Leuten (aus Gründen, die meiner Meinung nach das nicht rechtfertigen) ein CT gemacht wird. Wenn überhaupt, sollte man bei jungen Menschen ohnehin bis zum nächsten Tag warten und dann ein MRT machen. Aber wenn die Anamnese jetzt wirklich klar typisch für Synkopen ist, also wenn derjenige zum Beispiel berichtet, dass er sich vorher angeschlagen hat, einen kurzen Schmerz hatte, und dann ist ihm flau geworden, dann ist das völlig klar. Dann weiß ich nicht nur, dass es eine Synkope war, sondern auch, dass es eine vasovagale Synkope war. Und da mache ich gar keine Bildgebung, weil die Bildgebung mir nie irgendwelche Gründe zeigt, warum man synkopiert, sondern (und das ist das Fatale), schlimmstenfalls irgendwelche Zufallsbefunde zutage fördert, die dann einen eigentlich gesunden Menschen erst krank machen. Also wenn man sich sicher ist, dass es eine Synkope war, bitte keine bildgebende Zusatzdiagnostik durchführen.

Dietrich Sturm

Nun haben wir ja schon angerissen, was sinnlos ist. Aber was ist denn sinnvolle Diagnostik bei einer Synkope?

Rolf Diehl

Da bedanke ich mich erstmal sehr herzlich für diese schöne Frage. Das bewegt mich schon sehr lange und ich hatte jetzt zum wiederholten Male die Freude, als federführender Leitlinienautor für diese Lieblingsvorstellungen von mir nicht nur in der ganzen Arbeitsgruppe Gehör zu finden, sondern das immer wieder auch zu Papier zu bringen. Was Sie eigentlich als Diagnostik brauchen, sind ganz viele kliniknahe Untersuchungen und sehr wenige apparative Untersuchungen. Und zu diesen kliniknahen Untersuchungen, gehört die wirklich sehr ausführliche Anamnese. Ich finde es immer toll, wenn man sich wirklich mal Zeit für einen Patienten nehmen kann und sehr detailliert nicht nur die Vorgeschichte, sondern auch die Charakteristika des abgelaufenen Anfalls erfragt. Die Fremdanamnese hilft hier auch. Fassen wir das mal zu dem ersten Pfeiler der Synkopendiagnostik zusammen, der Anamnese. Der zweite Punkt ist, dass der Patient gut untersucht werden muss. Nicht nur neurologisch, sondern insgesamt braucht er eine gute körperliche Untersuchung. Dabei geht es vor allem darum, z.B. beim abhorchen des Patienten Hinweise für eine Herzerkrankung oder Hinweise für eine Exsikkose und dergleichen zu finden. Das dritte, was obligatorisch ist in der Diagnostik von Synkopen, ist ein 12-Kanal-EKG, weil das in der Hälfte der Fälle von Menschen mit kardialen Synkopen, die Ursache einfach aufdeckt. Da brauchen wir gar nichts anderes mehr zu machen und man weiß dann, was es ist. Übrigens sind das Patienten, die dann auch oft stationär aufgenommen werden müssen.

Rolf Diehl

Eine kurze Zwischenfrage: Reicht da ein normales EKG oder muss es ein EKG mit dem langen Streifen sein, oder gar ein Langzeit-EKG?

Dietrich Sturm

Es reicht das normale EKG, was in der Notaufnahme normalerweise gemacht wird. Wie gesagt, das ist wirklich die einzige technisch vielleicht ein bisschen aufwendigere Zusatzdiagnostik. Denn als viertes machen wir dann noch einen aktiven Stehtest. Früher nannte man das Schellong-Test. Wir haben diesen Test jetzt in der neuesten Auflage der Leitlinien umbenannt, obwohl Herr Schellong einer der ersten autonomen klinischen Forscher war und es eigentlich verdient hätte, dass ein Test nach ihm benannt wird. Aber der Name ist so negativ konnotiert bei vielen Ärzten als etwas, was man als Zwangsmaßnahme in seinem praktischen Jahr machen musste: Den Patienten zehn Minuten stehen lassen, ständig Blutdruck messen, keiner konnte einem richtig erklären, wie das alles eigentlich jetzt zu interpretieren ist. Das war der Grund, warum der Schellong-Test, obwohl er so wichtig ist in der Diagnostik, in der Praxis viel zu selten durchgeführt wurde. Lange Rede, kurzer Sinn: Wir haben deshalb beschlossen, wir nennen diesen Test jetzt „aktiven Stehtest“ mit einer Gesamtdauer von drei Minuten. Das wirkt jetzt nicht abschreckend, reicht aber aus, um zum Beispiel eine orthostatische Hypotension mit relativ einfachen Mitteln nachweisen zu können. Da eine orthostatische Hypotension bei den Synkopen zu etwa 20-25 % die Ursache darstellt, haben wir mit diesem einfachen Test also schon in der Notaufnahme den Synkopenmechanismus geklärt.

Dietrich Sturm

Also Sie sagten ja, drei Minuten Standphase ist jetzt ausreichend. Das heißt, diese Standphase ist kürzer geworden, im Vergleich zu den klassischen Beschreibungen von früher. Das ist richtig so?

Rolf Diehl

Genau, das waren früher zehn Minuten und jetzt sind es nur drei Minuten.

Dietrich Sturm

Können Sie vielleicht noch mal das wichtigste diagnostische Kriterium des aktiven Stehtestes beschreiben? Also auf welche Werte muss ich eigentlich achten? Und gibt es Grenzwerte, wo man diesen Test als pathologisch ansehen würde?

Rolf Diehl

Vielleicht beschreibe ich zunächst mal das, was bei uns Gesunden hoffentlich allen passiert, wenn bei uns dieser Test gemacht wird. Bei uns fällt vielleicht wenn wir uns hinstellen ganz kurzzeitig der Blutdruck um 20 mmHG systolisch ab, steigt innerhalb von 20 Sekunden wieder auf den Normalwert an und bleibt dann auch auf diesem Niveau. Also der Blutdruck bleibt mehr oder weniger konstant und der Puls steigt um etwa 15 bis 20 bpm an. Das ist das normale Pattern. Wenn wir jetzt einen Menschen haben, der ein Problem mit seinem autonomen Nervensystem hat, Stichwort Multisystematrophie zum Beispiel, dann kommt es bei diesem Menschen nicht zum Erholen des Blutdruckabfalls. Der Blutdruck fällt vielmehr systematisch über 1 bis 2 bis 3 Minuten immer weiter ab und kann schließlich abenteuerlich niedrige Werte von 50 mmHG erreichen. Spätestens da setzt der Ohnmachtsanfall ein. Und das zweite Merkmal, was man in diesem aktiven Stehtest sehen kann, ist das Verhalten des Pulses. Ein Mensch, der neurologisch bedingt eine orthostatische Hypotonie hat, kann auch seine Herzfrequenz nicht über das autonome Nervensystem regeln. Bei diesem findet deshalb dieser kompensatorische Herzfrequenzanstieg nicht oder nur stark vermindert statt. Der Puls steigt bei diesen Patienten dann zum Beispiel nur 5 bpm über das Ausgangsniveau an. Und so hat man dann eine sehr schöne neurologische Diagnose einer autonomen Störung mit diesem einfachen Stehtest gestellt.

Dietrich Sturm

Gibt es häufige Grunderkrankungen, die dazu führen? Kann zum Beispiel eine autonome Neuropathie im Rahmen einer Zuckererkrankung so etwas begünstigen? Oder sind das immer so schwere neurodegenerative Erkrankungen, wie sie vorhin angerissen haben?

Rolf Diehl

Ich würde sagen, die allerhäufigste Ursache für eine autonome Neuropathie ist tatsächlich der Diabetes mellitus. Deshalb gehört in meinen Augen auch dieser aktive Stehtest schon als Screeningtest zur Verlaufsuntersuchung von Diabetikern mit dazu. Und in der Neurologie gibt es viele Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Viele Arten von Polyneuropathien können auch eine autonome Neuropathie als Begleiterkrankung haben. Parkinson Syndrome führen in 50 % der Fälle im Verlauf irgendwann auch zu einer autonomen Störung mit orthostatischer Hypotonie. Auch da muss man immer gezielt nach fragen. Und in letzter Zeit entdeckt man bei vielen, früher idiopathischen Erkrankungen eine autoimmune Ursache. Neuerdings hat man auch eine autoimmune Ursache, die sozusagen im sympathischen Ganglion angreift, gefunden. Und das ist eine Form von orthostatischer Hypotension, die man mit einer Immuntherapie, zum Beispiel mit einer Plasmapherese, erfolgreich behandeln kann.

Dietrich Sturm

Das ist aber sicherlich ein sehr spezieller Sonderfall. Also um da keine Überdiagnostik zu provozieren, das ist wirklich eine Rarität.

Rolf Diehl

Die allermeisten Patienten mit einer orthostatischen Hypotension, können ein normales Leben führen. Sie vermeiden es, längere Zeit zu stehen und kommen dann doch irgendwie zurecht in ihrem Leben. Es gibt aber eine Minderheit an Patienten, die so dramatische Blutdruckabfälle im Stehen haben, dass für sie ein normales Leben gar nicht mehr möglich ist und sie unter Umständen ihr Leben im Bett zubringen müssen. Bei diesen Fällen geben wir uns immer größte Mühe, wirklich auch nichts bei der Ursachenentdeckung auszulassen. Wie gesagt, wir sind häufig dritte Meinungsinstanz. Da kommt es immer wieder vor, dass wir auch diese Autoimmunerkrankungen sehen und dass den Patienten tatsächlich nur durch diese schweren Autoimmuntherapien geholfen werden kann.

Dietrich Sturm

Ich wollte jetzt inhaltlich eigentlich noch gar nicht ganz vom aktiven Stehtest weg, muss jetzt aber interessehalber doch mal fragen: Wie diagnostiziere ich denn so was? Also eine autoimmun vermittelte Störung des autonomen Nervensystems? Was ist da der diagnostische Ansatz?

Rolf Diehl

Zunächst einmal habe ich vorher Ausschlussdiagnostik gemacht. Ich sehe in diesen Fällen Patienten, die sonst kerngesund sind und keine anderen neurologischen oder internistischen Erkrankungen haben. Und da hat man früher gesagt, es handelt sich um eine idiopathische orthostatische Hypotension. Inzwischen hat man festgestellt, dass von diesen idiopathischen Formen eben doch gut die Hälfte der Fälle gar nicht idiopathisch sind, sondern dass sich zum Beispiel nach einem Infekt erst die Symptomatik eingestellt hat. Und wenn man dann nach diesen Antikörpern sucht, von denen ich eben sprach, die die Strukturen in den sympathischen Ganglien angreifen, dann ist das in seltenen Fällen etwas, wo man auch als Behandler große Glücksgefühle hat, weil man einen Angriffspunkt für eine Therapie gefunden hat. Es gibt zwei Labore in Deutschland, wo man Blut hinschicken kann und die nach diesen Antikörpern suchen.

Dietrich Sturm

Noch mal wieder ein Level zurück zur Basis, zum aktiven Stehtest. Sie haben ja gesagt, es ist pathologisch, wenn ein signifikanter Blutdruckabfall auftritt. Die Grenzwerte, die ich im Hinterkopf habe, sind 20 mmHG systolisch und/oder 10 mmHG diastolisch. Reicht das allein aus, um den aktiven Stehtest als pathologisch zu werten oder muss sich die Herzfrequenz auch verändern? Und die Anschlussfrage: Kann die Herzfrequenz sich in beide Richtung verändern oder bleibt sie gleich? Gibt es unterschiedliche Befundtypen im aktiven Stehtest?

Rolf Diehl

Also beim aktiven Stehtest muss ich allerdings sagen, da der nur drei Minuten dauert, habe ich damit keine Chance, eine vasovagale Synkope auszulösen. Das ist die große Domäne des Kipptisches, falls Sie mich da später nochmal nach fragen. Die vasovagale Synkope, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Puls sogar abfällt, die kriege ich mit dem aktiven Stehtest also nicht raus. Das ist aber der große Unterschied zur orthostatischen Hypotenson. Bei der vasovagalen Synkope fällt der Puls ab. Bei der orthostatischen Hypotension steigt der Puls ein bisschen, aber nicht stark genug an. Vielleicht wollen Sie mit der Frage darauf hinaus: Es gibt noch ein drittes pathologisches Kreislaufbild, was mit Synkopen einhergehen kann. Das ist das posturale Tachykardiesyndrom, oder mit seiner griffigen Abkürzung POTS genannt.

Dietrich Sturm

Ja genau, da wollte ich ein bisschen hin leiten.

Rolf Diehl

Dieses POTS ist etwas, das bis vor 20 Jahren in Deutschland noch überhaupt gar nicht bekannt war. In Amerika haben die autonomen Labore angefangen und gesehen, dass es viele ganz junge Menschen, überwiegend Frauen, gibt, die ganz merkwürdige Symptome haben. Wenn sie z.B. längere Zeit auf dem Schulhof stehen, wird es ihnen immer flauer im Kopf. Viele werden gar nicht ohnmächtig, sondern bitten einfach nur ihre Lehrerin, die Pause im Klassenzimmer verbringen zu dürfen. Mit solcher Symptomatik hat man sich damals auseinandergesetzt und in diesem Zusammenhang auch Kreislauftests mit dem Kipptisch gemacht. Man hat also unter standardisierten Bedingungen mit kontinuierlicher Messung des Blutdrucks Untersuchungen durchgeführt. Und dabei hat man festgestellt, dass diese jungen Leute, die diese merkwürdigen Symptome haben mit der Stehunverträglichkeit, eigentlich einen ganz stabilen Blutdruck haben, aber raketenhaft mit dem Puls ansteigen und schon nach wenigen Minuten einen Anstieg von 30 bpm über dem Ausgangsniveau erreichen. Und wenn sie noch länger stehen bleiben, passiert es nicht selten, dass sie bis 70 bpm über dem Ausgangsniveau ansteigen. Also z.B. haben sie in Ruhe einen Puls von 60 bpm und dann nach zehn Minuten im Stehen einen Puls über 130 bpm, also ein irrsinniges Herzrasen. Und wenn man sie dann doch noch ein bisschen länger stehen lässt, als sie eigentlich wollen, dann mündet das Ganze tatsächlich auch in einer Synkope und sie werden ohnmächtig. Das ist so vor 20 Jahren insbesondere in Amerika untersucht worden. Ich habe damals als einer der ersten Deutschen für das Ärzteblatt darüber berichtet und habe mich leider breitschlagen lassen, von dem damaligen Chefredakteur als Untertitel zu wählen: „Posturales Tachykardiesyndrom in Deutschland zu selten diagnostiziert“. Und das hat leider fatale Folgen gehabt. Dieser Artikel ist leider populärwissenschaftlich geworden und wird heute mehr von selbst diagnostizierten POTS-Patienten, als von Ärzten gelesen, sodass ich  immer noch, auch 17 Jahre später, sehr viel Post bekomme von Personen, die mir sagen: „Herr Doktor, kann es sein, dass ich das habe und kann ich mal zu Ihnen kommen?“. Bei vielen lässt sich das dann auch gar nicht verhindern, aber bei ganz vielen ist es auch so, dass sie relativ wenig organisches Korrelat und sehr ausgeprägte Symptome haben. Das ist ein bisschen so ähnlich wie bei dem Chronic Fatigue Syndrom oder dem Fibromyalgie Syndrom. Das sehe ich dann immer wieder und dank der Tatsache, dass ich ja auch Psychologe bin, kann ich die Patienten dann aber trotzdem oft gut beraten.

Dietrich Sturm

Aber ohne es verharmlosen zu wollen, diese Erkrankung gibt es und die hat auch ein physiologisches, messbares Korrelat, nämlich diesen rapiden Herzfrequenz Anstieg. Das ist richtig?

Rolf Diehl

Genau, so ist es. Aber die meisten Menschen, die jetzt wirklich nur dieses organische Korrelat haben, ohne eine starke psychische Mitbeeinträchtigungen, denen kann man wunderbar beibringen, wie sie diese Probleme im Alltag kompensieren können. Die beste Therapie bei dem posturalen Tachykardiesyndrom ist regelmäßiger Konditionssport. Da ist man immer froh, wenn man diesen jungen Leuten, die sagen „das kann ich alles nicht mehr“, dann als Empfehlung mitgeben kann, bitte langsam wieder Konditionssport aufbauen. Das ist auch die einzig bewährte Therapie.

Dietrich Sturm

Sie haben ja neben dem aktiven Stehtest als nächsten diagnostischen Schritt schon den Kipptisch angesprochen. Vielleicht können Sie auch hier kurz den Untersuchungsablauf schildern und uns einmal berichten, wann Sie den Patienten weiter mit dem Kipptisch untersuchen. Welche Indikation gibt es dafür?

Rolf Diehl

Also den Kipptisch mache ich, wenn ich bei einem Patienten mit unklarem Ohnmachtsanfall durch die Diagnostik, die ich eben erwähnt habe, nicht weiterkomme und ich auch zum Beispiel mit dem aktiven Stehtest kein pathologisches Muster auslösen kann. Also: Die Anamnese bringt mich nicht wirklich weiter, das EKG hat mich nicht weitergebracht. Dann kann man überlegen, ob es vielleicht doch eine vasovagale Synkope, also eine Reflexsynkope, sein könnte, obwohl der Auslöser in der aktuellen Situation nicht so ganz dazu gepasst hat. Also mache ich diese Untersuchung mit dem Kipptisch eher bei Fällen, die noch unklar geblieben sind nach dieser Basis Diagnostik. Diese Untersuchung ist im Unterschied zum aktiven Stehest in der Regel auf eine 3/4 Stunde Stehen ausgerichtet, sodass ich dann wirklich die Chance habe, eine vasovagale Synkope mit dem typischen Muster aus Herzfrequenzabfall und starkem Blutdruckabfall dokumentieren zu können. In der Regel lasse ich die Patienten gar nicht mehr ohnmächtig werden, sondern sage ihnen sofort „bitte Muskelverspannung einleiten“, sodass sie lernen, alle Gesäß-und Beinmuskeln stark anzuspannen und dadurch das Blut aus den unteren Extremitäten wieder ins zentrale Blutvolumen zu verlagern. Damit lernen sie dann auch schon, wie sie eine solche Synkope abfangen können. Aber es gibt noch weitere gute Gründe, bei unklaren Ohnmachtsanfällen einen Kipptisch durchzuführen. Das ist nämlich eine große Gruppe, die wir bisher noch gar nicht erwähnt haben, aber die man differentialdiagnostisch immer im Auge haben muss bei Menschen, die unklare Ohnmachtsanfälle erleiden. Nämlich die Patienten, die psychogen bedingte Anfälle haben, die also gar keinen neurologischen körperlichen Grund haben für eine Ohnmacht, sondern die aus Gründen, die aus einem krankhaften Unbewussten heraus nach oben kommen, ohnmächtig werden. Das Interessante ist, dass ich bei solchen Menschen mit einem Langzeitkipptisch zu 80 % auch einen psychogenen Anfall auslösen kann, den ich dann natürlich beobachten und oft schon vom ganzen Ablauf des Anfalls her ganz klar als psychogen bezeichnen kann. Ich sehe dabei, dass der Blutdruck und der Puls normal bleiben. Allenfalls sehe ich mal, dass bei einem psychogenen Anfall der Blutdruck ansteigt, denn oft geht ein psychogener Anfall ja auch mit inneren psychischen Spannungen einher. Der Kipptisch hilft also auch in der Abgrenzung der psychogenen Anfälle.

Dietrich Sturm

Mit der modifizierten Form des Schellong-Testes, also dem aktiven Stehtest, hat man ein sehr gutes Screening Instrument an der Hand. Ich glaube, wir haben uns im Vorgespräch schon ein bisschen darüber unterhalten:  Sie werben ausdrücklich für die Anwendung dieses Tests, nicht nur in der Klinik, sondern das kann im Prinzip auch jeder Hausarzt machen. Ist das richtig?

Rolf Diehl

Genau. Der Hausarzt hat in der Regel ein EKG zur Verfügung, er hat eine Blutdruckmanschette und er kann den Test auch seine medizinische Fachangestellte durchführen lassen. Es gibt eine italienische Studie, die basierend auf solchen Prinzipien, wie wir sie auch den Leitlinien beschrieben haben, ermittelt hat, wie viel Prozent unklarer Ohnmachtsanfälle sich allein durch diesen 4-Klang in der Basisdiagnostik, also diese einfachen Methoden schon klären lässt. Und dabei wurde festgestellt, es sind 50 %. Also 50 % aller Menschen, die mit unklaren Ohnmachtsanfällen zum Hausarzt kommen, kann der Hausarzt mit seinen Mitteln schon abklären und musst sie gar nicht zum Facharzt schicken. Klar, wenn jemand kardiale Synkopen hat, dann muss er natürlich zum Kardiologen. Aber die Diagnose kann der Hausarzt dann schon selber stellen.

Dietrich Sturm

Letzte Frage: Sie haben ja schon als therapeutisches Manöver die Aktivierung der Muskelpumpe ins Feld geführt, also das Anspannen von Beinmuskeln und Gesäßmuskeln. Welche Tricks, Kniffe und Manöver gibt es für den Alltag noch, die man dem Patienten konkret nennen kann, um so etwas zu verhindern? Also gibt es Techniken, die der Patient schon selber anwenden kann, wenn er merkt, dass irgendwas ist im Anmarsch ist und er sich nicht richtig gut fühlt?

Rolf Diehl

Also zunächst kann man allen Patienten, egal ob es sich um ein posturales Tachykardiesyndrom, eine orthostatische Hypotension oder eine vasovagale Synkope handelt, empfehlen, bei längerem Stehen die Beine ein bisschen zu verschränken und aneinander zu pressen. Damit wird das venöse Pooling schonmal gemindert. Den zweiten Punkt, das Anspannen aller Muskeln beim Auftreten von Prodromi, habe ich schon erwähnt. Darüber hinaus gibt es eine Technik, mit welcher man sehr schnell etwas erreichen kann, wenn man merkt, dass man vielleicht in zwei oder drei Sekunden schon ohnmächtig wird. Dann sollte man sich sofort und auf schnellstem Wege in die Hocke begeben. Untersuchungen haben gezeigt, dass durch dieses Manöver innerhalb von 1-2 Sekunden anderthalb Liter Blut aus den Beinen wieder ins zentrale Blutvolumen zurückverlagert werden .

Dietrich Sturm

Bringt das Tragen von Kompressionsstrümpfen irgendwas?

Rolf Diehl

Dazu haben wir uns für die neuen Leitlinien noch mal genau die Studienlage angeguckt und festgestellt, dass die Kompressionsstrümpfe, die ja auch für viele, gerade jüngere Menschen und gerade im Sommer eine große Belastung darstellen, eigentlich gar nicht so viel bringen. In manchen Studien nicht mal mehr als Placeboeffekt. Aber etwas, was für die orthostatische Hypotension tatsächlich einen deutlichen Effekt gezeigt hat, sind Abdominalbinden. Das sind Binden, die man um Bauch und Becken bindet und dann auch relativ stramm anziehen muss. Das bringt wesentlich mehr, kommt aber nur für Patienten mit orthostatischer Hypotension in Frage.

Dietrich Sturm

Und gibt es für das gleiche Krankheitsbild gibt es auch pharmakologische Möglichkeiten, wenn physikalische Manöver nicht mehr aushelfen?

Rolf Diehl

Das muss man den Patienten anbieten, insbesondere bei der orthostatischen Hypotonie, die ja auch dramatische Ausprägungen zeigen kann, wie ich eben beschrieben habe. Da helfen als Mittel der ersten Wahl Medikamente, die über Alpha-Rezeptor Stimulationen eine Vasokonstriktion machen. Da sagt vielleicht dem einen oder anderen das Midodrin etwas. Für dieses Medikament ist die Studienlage auch am besten und da darf man mit der Dosierung auch durchaus in den oberen zugelassenen Bereich gehen, das wären so drei mal zehn Milligramm in der Behandlung. Das kann man noch mit anderen Medikamenten kombinieren, zum Beispiel Fludrocortison. Das wirkt eher über den Mechanismus einer Flüssigkeitsretention. Das sind in Deutschland die beiden zugelassenen Medikamente.

Dietrich Sturm

Herr Professor Diehl, vielen Dank für Ihre Zeit. Ich glaube, das war ein sehr umfassender Überblick, angeknüpft an die neuen Leitlinien. Die findet man sicherlich im Internet.

Rolf Diehl

Die neuen Leitlinien sind seit Januar von der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften freigeschaltet worden.

Dietrich Sturm

Sehr schön. Bei allen Hörerinnen und Hörern bedanke ich mich fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal bei Klinisch Relevant.

Ende

Dies war die 50. Folge des Klinisch Relevant Podcasts. Wir hoffen sehr, dass sie dir gut gefallen hat. Dietrich, Nils und ich möchten uns ganz, ganz herzlich bei euch bedanken für eure Treue, aber auch für eure konstruktiven Vorschläge. Wir hoffen, dass ihr euren Kolleginnen und Kollegen von unserem Projekt erzählt. Macht gerne Werbung für uns. Besucht uns auf unseren Social Media Kanälen, bei Facebook, bei LinkedIn, bei YouTube und bei Instagram. Wenn ihr uns einen großen Gefallen tun möchtet, dann bewertet unseren Podcast gerne bei Apple Podcasts. Das wäre sehr gut und würde dazu führen, dass mehr Leute von unserem Podcast hören. Genug geredet. Wir freuen uns schon, wenn ihr beim nächsten Mal zuhört. Macht es gut. Ciao.

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